Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

Abend beim Grafen Selvar und den Seinigen zuzubringen.

Gott sei Dank, es ist ein Regentag, sagte Frau Werl, da bleiben wir wohl allein drüben.

Und so war's auch. Außer der verheiratheten Tochter des Grafen und deren Gemahl kam Niemand weiter. Der Amtmann, ein sehr munterer alter Herr, mit dem Selvar gerne verkehrte, hatte ihn mit Ida's Verhältnissen und Aussichten bekannt gemacht, indeß diese mit der jungen Gräfin über Bellini und Donizetti disputirte. Gleich den meisten aristokratischen Damen liebte die Gräfin diese beiden Componisten über alles Maß und fand Alles von ihnen magnifique, superbe u. s. w.

Ida hielt ihr die große Armuth der modernen italienischen Compositionsweise entgegen. Sie erinnerte sie an die immer wiederkehrenden süßlichen, charakterlosen Melodiken, unfähig, das höchste Entzücken, wie den tiefsten Seelenschmerz auszudrücken; an die Ansätze zu Kraftstellen, die stets affectirt und lächerlich erschienen und durch, die mindeste Parodie sogleich in ihrer ganzen Blöße aufgedeckt würden; an den monotonen Marsch-Rhythmus; an die Harmonie, die in zwei oder drei verwandten Tonarten im Kreise läuft, wie im Tretrad, und an die totale Nichtigkeit der Begleitung und der Zwischenspiele.

Und dennoch entzückt diese Musik alle Welt, sagte die Gräfin, man hört und singt sie mit Vergnügen

Abend beim Grafen Selvar und den Seinigen zuzubringen.

Gott sei Dank, es ist ein Regentag, sagte Frau Werl, da bleiben wir wohl allein drüben.

Und so war's auch. Außer der verheiratheten Tochter des Grafen und deren Gemahl kam Niemand weiter. Der Amtmann, ein sehr munterer alter Herr, mit dem Selvar gerne verkehrte, hatte ihn mit Ida's Verhältnissen und Aussichten bekannt gemacht, indeß diese mit der jungen Gräfin über Bellini und Donizetti disputirte. Gleich den meisten aristokratischen Damen liebte die Gräfin diese beiden Componisten über alles Maß und fand Alles von ihnen magnifique, superbe u. s. w.

Ida hielt ihr die große Armuth der modernen italienischen Compositionsweise entgegen. Sie erinnerte sie an die immer wiederkehrenden süßlichen, charakterlosen Melodiken, unfähig, das höchste Entzücken, wie den tiefsten Seelenschmerz auszudrücken; an die Ansätze zu Kraftstellen, die stets affectirt und lächerlich erschienen und durch, die mindeste Parodie sogleich in ihrer ganzen Blöße aufgedeckt würden; an den monotonen Marsch-Rhythmus; an die Harmonie, die in zwei oder drei verwandten Tonarten im Kreise läuft, wie im Tretrad, und an die totale Nichtigkeit der Begleitung und der Zwischenspiele.

Und dennoch entzückt diese Musik alle Welt, sagte die Gräfin, man hört und singt sie mit Vergnügen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0014"/>
Abend beim Grafen Selvar und den Seinigen zuzubringen.</p><lb/>
        <p>Gott sei Dank, es ist ein Regentag, sagte Frau Werl, da bleiben wir wohl allein drüben.</p><lb/>
        <p>Und so war's auch. Außer der verheiratheten Tochter des Grafen und deren Gemahl kam Niemand      weiter. Der Amtmann, ein sehr munterer alter Herr, mit dem Selvar gerne verkehrte, hatte ihn      mit Ida's Verhältnissen und Aussichten bekannt gemacht, indeß diese mit der jungen Gräfin über      Bellini und Donizetti disputirte. Gleich den meisten aristokratischen Damen liebte die Gräfin      diese beiden Componisten über alles Maß und fand Alles von ihnen magnifique, superbe u. s.      w.</p><lb/>
        <p>Ida hielt ihr die große Armuth der modernen italienischen Compositionsweise entgegen. Sie      erinnerte sie an die immer wiederkehrenden süßlichen, charakterlosen Melodiken, unfähig, das      höchste Entzücken, wie den tiefsten Seelenschmerz auszudrücken; an die Ansätze zu Kraftstellen,      die stets affectirt und lächerlich erschienen und durch, die mindeste Parodie sogleich in ihrer      ganzen Blöße aufgedeckt würden; an den monotonen Marsch-Rhythmus; an die Harmonie, die in zwei      oder drei verwandten Tonarten im Kreise läuft, wie im Tretrad, und an die totale Nichtigkeit      der Begleitung und der Zwischenspiele.</p><lb/>
        <p>Und dennoch entzückt diese Musik alle Welt, sagte die Gräfin, man hört und singt sie mit      Vergnügen<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0014] Abend beim Grafen Selvar und den Seinigen zuzubringen. Gott sei Dank, es ist ein Regentag, sagte Frau Werl, da bleiben wir wohl allein drüben. Und so war's auch. Außer der verheiratheten Tochter des Grafen und deren Gemahl kam Niemand weiter. Der Amtmann, ein sehr munterer alter Herr, mit dem Selvar gerne verkehrte, hatte ihn mit Ida's Verhältnissen und Aussichten bekannt gemacht, indeß diese mit der jungen Gräfin über Bellini und Donizetti disputirte. Gleich den meisten aristokratischen Damen liebte die Gräfin diese beiden Componisten über alles Maß und fand Alles von ihnen magnifique, superbe u. s. w. Ida hielt ihr die große Armuth der modernen italienischen Compositionsweise entgegen. Sie erinnerte sie an die immer wiederkehrenden süßlichen, charakterlosen Melodiken, unfähig, das höchste Entzücken, wie den tiefsten Seelenschmerz auszudrücken; an die Ansätze zu Kraftstellen, die stets affectirt und lächerlich erschienen und durch, die mindeste Parodie sogleich in ihrer ganzen Blöße aufgedeckt würden; an den monotonen Marsch-Rhythmus; an die Harmonie, die in zwei oder drei verwandten Tonarten im Kreise läuft, wie im Tretrad, und an die totale Nichtigkeit der Begleitung und der Zwischenspiele. Und dennoch entzückt diese Musik alle Welt, sagte die Gräfin, man hört und singt sie mit Vergnügen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T13:10:50Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T13:10:50Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910/14
Zitationshilfe: Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910/14>, abgerufen am 23.11.2024.