Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kinkel, Gottfried: Margret. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 4. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 199–262. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

Strahlen des Mondes glitzernd, die einzeln durch die Zweige herabfielen. Feig sprang sie zurück, aber bald näherte sie sich wieder, langsam Fuß vor Fuß voransetzend, um den Augenblick des Sprunges abzusehen. Das noch lebende Junge kroch ihr bange nach. So rückte das Unthier bis dicht vor das Mädchen vor, aber ehe es in den Bereich der Waffe kam, blieb es stehen, hockte auf die Hinterfüße nieder und peitschte den Schnee mit seinem wedelnden Schweif, geduldig den Augenblick abwartend, wo Margret mit dem Auge blinzeln, oder vor Müdigkeit die Arme niedersenken mußte.

So standen sie sich entgegen, die beiden Todfeindinnen; die wölfische Mutter, um den Mord ihres Kindes zu rächen, die menschliche, um dem ihrigen den Heiltrank des Lebens zu sichern. Wie lange diese gräßlichen Augenblicke dauerten, wußte Margret nicht. Ihr Denken stand still, und nur den Willen hielt sie in ihrer tiefsten Seele fest, den rechten Augenblick des Hiebes nicht zu versäumen. Aber schon trat der kalte Schweiß der Mattigkeit vor ihre Stirn, die Füße zitterten unter der Last des Körpers, die Arme wurden starr durch die Anspannung, mit der sie die schwere Axt emporhielt, und vor den Augen flirrten ihr auf dem blendenden Schnee schon alle Farben des Regenbogens. Sie gab sich verloren.

Da schlug an der Stelle, wo der Waldsaum am nächsten bei ihr in die Schneefläche verlief, im dunklen Gebüsch ein Blitz auf - ein Pfeifen zischte durch die

Strahlen des Mondes glitzernd, die einzeln durch die Zweige herabfielen. Feig sprang sie zurück, aber bald näherte sie sich wieder, langsam Fuß vor Fuß voransetzend, um den Augenblick des Sprunges abzusehen. Das noch lebende Junge kroch ihr bange nach. So rückte das Unthier bis dicht vor das Mädchen vor, aber ehe es in den Bereich der Waffe kam, blieb es stehen, hockte auf die Hinterfüße nieder und peitschte den Schnee mit seinem wedelnden Schweif, geduldig den Augenblick abwartend, wo Margret mit dem Auge blinzeln, oder vor Müdigkeit die Arme niedersenken mußte.

So standen sie sich entgegen, die beiden Todfeindinnen; die wölfische Mutter, um den Mord ihres Kindes zu rächen, die menschliche, um dem ihrigen den Heiltrank des Lebens zu sichern. Wie lange diese gräßlichen Augenblicke dauerten, wußte Margret nicht. Ihr Denken stand still, und nur den Willen hielt sie in ihrer tiefsten Seele fest, den rechten Augenblick des Hiebes nicht zu versäumen. Aber schon trat der kalte Schweiß der Mattigkeit vor ihre Stirn, die Füße zitterten unter der Last des Körpers, die Arme wurden starr durch die Anspannung, mit der sie die schwere Axt emporhielt, und vor den Augen flirrten ihr auf dem blendenden Schnee schon alle Farben des Regenbogens. Sie gab sich verloren.

Da schlug an der Stelle, wo der Waldsaum am nächsten bei ihr in die Schneefläche verlief, im dunklen Gebüsch ein Blitz auf – ein Pfeifen zischte durch die

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0061"/>
Strahlen des Mondes glitzernd,     die einzeln durch die Zweige herabfielen. Feig sprang sie zurück, aber bald näherte sie sich     wieder, langsam Fuß vor Fuß voransetzend, um den Augenblick des Sprunges abzusehen. Das noch     lebende Junge kroch ihr bange nach. So rückte das Unthier bis dicht vor das Mädchen vor, aber     ehe es in den Bereich der Waffe kam, blieb es stehen, hockte auf die Hinterfüße nieder und     peitschte den Schnee mit seinem wedelnden Schweif, geduldig den Augenblick abwartend, wo Margret     mit dem Auge blinzeln, oder vor Müdigkeit die Arme niedersenken mußte.</p><lb/>
        <p>So standen sie sich entgegen, die beiden Todfeindinnen; die wölfische Mutter, um den Mord     ihres Kindes zu rächen, die menschliche, um dem ihrigen den Heiltrank des Lebens zu sichern. Wie     lange diese gräßlichen Augenblicke dauerten, wußte Margret nicht. Ihr Denken stand still, und     nur den Willen hielt sie in ihrer tiefsten Seele fest, den rechten Augenblick des Hiebes nicht     zu versäumen. Aber schon trat der kalte Schweiß der Mattigkeit vor ihre Stirn, die Füße     zitterten unter der Last des Körpers, die Arme wurden starr durch die Anspannung, mit der sie     die schwere Axt emporhielt, und vor den Augen flirrten ihr auf dem blendenden Schnee schon alle     Farben des Regenbogens. Sie gab sich verloren.</p><lb/>
        <p>Da schlug an der Stelle, wo der Waldsaum am nächsten bei ihr in die Schneefläche verlief, im     dunklen Gebüsch ein Blitz auf &#x2013; ein Pfeifen zischte durch die<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0061] Strahlen des Mondes glitzernd, die einzeln durch die Zweige herabfielen. Feig sprang sie zurück, aber bald näherte sie sich wieder, langsam Fuß vor Fuß voransetzend, um den Augenblick des Sprunges abzusehen. Das noch lebende Junge kroch ihr bange nach. So rückte das Unthier bis dicht vor das Mädchen vor, aber ehe es in den Bereich der Waffe kam, blieb es stehen, hockte auf die Hinterfüße nieder und peitschte den Schnee mit seinem wedelnden Schweif, geduldig den Augenblick abwartend, wo Margret mit dem Auge blinzeln, oder vor Müdigkeit die Arme niedersenken mußte. So standen sie sich entgegen, die beiden Todfeindinnen; die wölfische Mutter, um den Mord ihres Kindes zu rächen, die menschliche, um dem ihrigen den Heiltrank des Lebens zu sichern. Wie lange diese gräßlichen Augenblicke dauerten, wußte Margret nicht. Ihr Denken stand still, und nur den Willen hielt sie in ihrer tiefsten Seele fest, den rechten Augenblick des Hiebes nicht zu versäumen. Aber schon trat der kalte Schweiß der Mattigkeit vor ihre Stirn, die Füße zitterten unter der Last des Körpers, die Arme wurden starr durch die Anspannung, mit der sie die schwere Axt emporhielt, und vor den Augen flirrten ihr auf dem blendenden Schnee schon alle Farben des Regenbogens. Sie gab sich verloren. Da schlug an der Stelle, wo der Waldsaum am nächsten bei ihr in die Schneefläche verlief, im dunklen Gebüsch ein Blitz auf – ein Pfeifen zischte durch die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T12:40:10Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T12:40:10Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_margret_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_margret_1910/61
Zitationshilfe: Kinkel, Gottfried: Margret. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 4. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 199–262. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_margret_1910/61>, abgerufen am 24.11.2024.