Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kinkel, Gottfried: Margret. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 4. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 199–262. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

Augenblick her zu mir; ich muß dir eine Sache eröffnen, die ich bisher verschwiegen habe.

Margret sah erstaunt ihre Tante an. Sieh, sagte diese, ich und die Hebamme haben es gleich bei der Geburt gesehen, daß du das Kind nicht aufbringen kannst. Leise setzte sie hinzu: Es hat ja ein Todesäderchen.

Bei diesen! Worte ergriff sie die Lampe und ließ deren stärksten Schein auf das Antlitz des Kindes fallen. Schau her, sagte sie, und wies auf die Stelle unter der Stirn. Wirklich lief dort der dunkelblaue Streif, stark von dem wachsblauen Krankengesicht abgehoben, von einem Auge zum andern hinüber.

Margret erstarrte; sie besann sich erst jetzt auf den allgemein herrschenden Aberglauben, daß diese Ader ein Todesbote sei, der kein mit ihm behaftetes Kind über die ersten Jahre hinüberkommen lasse. So lange der Knabe gesund war, bemerkte man dies Zeichen wenig, jetzt trat es unverkennbar hervor. Es mag in der That bei manchen Kindern auf Schwäche deuten, und da es im reifen Alter ganz verschwindet, so ist es freilich richtig, daß kein gesunder und erwachsener Mensch dasselbe an sich trägt.

Aber nur einen Augenblick siegte der Aberglaube über das Mutterherz. Tante, sagte sie, es kann sein, daß Ihr Recht habt. Aber ein Jahr hat mein Kind gelebt trotz dem Todesäderchen, und wenn es diese Nacht stirbt, so stirbt es nicht an der Ader, sondern

Augenblick her zu mir; ich muß dir eine Sache eröffnen, die ich bisher verschwiegen habe.

Margret sah erstaunt ihre Tante an. Sieh, sagte diese, ich und die Hebamme haben es gleich bei der Geburt gesehen, daß du das Kind nicht aufbringen kannst. Leise setzte sie hinzu: Es hat ja ein Todesäderchen.

Bei diesen! Worte ergriff sie die Lampe und ließ deren stärksten Schein auf das Antlitz des Kindes fallen. Schau her, sagte sie, und wies auf die Stelle unter der Stirn. Wirklich lief dort der dunkelblaue Streif, stark von dem wachsblauen Krankengesicht abgehoben, von einem Auge zum andern hinüber.

Margret erstarrte; sie besann sich erst jetzt auf den allgemein herrschenden Aberglauben, daß diese Ader ein Todesbote sei, der kein mit ihm behaftetes Kind über die ersten Jahre hinüberkommen lasse. So lange der Knabe gesund war, bemerkte man dies Zeichen wenig, jetzt trat es unverkennbar hervor. Es mag in der That bei manchen Kindern auf Schwäche deuten, und da es im reifen Alter ganz verschwindet, so ist es freilich richtig, daß kein gesunder und erwachsener Mensch dasselbe an sich trägt.

Aber nur einen Augenblick siegte der Aberglaube über das Mutterherz. Tante, sagte sie, es kann sein, daß Ihr Recht habt. Aber ein Jahr hat mein Kind gelebt trotz dem Todesäderchen, und wenn es diese Nacht stirbt, so stirbt es nicht an der Ader, sondern

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0054"/>
Augenblick her zu mir; ich muß dir eine Sache eröffnen, die ich bisher verschwiegen     habe.</p><lb/>
        <p>Margret sah erstaunt ihre Tante an. Sieh, sagte diese, ich und die Hebamme haben es gleich bei     der Geburt gesehen, daß du das Kind nicht aufbringen kannst. Leise setzte sie hinzu: Es hat ja     ein Todesäderchen.</p><lb/>
        <p>Bei diesen! Worte ergriff sie die Lampe und ließ deren stärksten Schein auf das Antlitz des     Kindes fallen. Schau her, sagte sie, und wies auf die Stelle unter der Stirn. Wirklich lief dort     der dunkelblaue Streif, stark von dem wachsblauen Krankengesicht abgehoben, von einem Auge zum     andern hinüber.</p><lb/>
        <p>Margret erstarrte; sie besann sich erst jetzt auf den allgemein herrschenden Aberglauben, daß     diese Ader ein Todesbote sei, der kein mit ihm behaftetes Kind über die ersten Jahre     hinüberkommen lasse. So lange der Knabe gesund war, bemerkte man dies Zeichen wenig, jetzt trat     es unverkennbar hervor. Es mag in der That bei manchen Kindern auf Schwäche deuten, und da es im     reifen Alter ganz verschwindet, so ist es freilich richtig, daß kein gesunder und erwachsener     Mensch dasselbe an sich trägt.</p><lb/>
        <p>Aber nur einen Augenblick siegte der Aberglaube über das Mutterherz. Tante, sagte sie, es kann     sein, daß Ihr Recht habt. Aber ein Jahr hat mein Kind gelebt trotz dem Todesäderchen, und wenn     es diese Nacht stirbt, so stirbt es nicht an der Ader, sondern<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0054] Augenblick her zu mir; ich muß dir eine Sache eröffnen, die ich bisher verschwiegen habe. Margret sah erstaunt ihre Tante an. Sieh, sagte diese, ich und die Hebamme haben es gleich bei der Geburt gesehen, daß du das Kind nicht aufbringen kannst. Leise setzte sie hinzu: Es hat ja ein Todesäderchen. Bei diesen! Worte ergriff sie die Lampe und ließ deren stärksten Schein auf das Antlitz des Kindes fallen. Schau her, sagte sie, und wies auf die Stelle unter der Stirn. Wirklich lief dort der dunkelblaue Streif, stark von dem wachsblauen Krankengesicht abgehoben, von einem Auge zum andern hinüber. Margret erstarrte; sie besann sich erst jetzt auf den allgemein herrschenden Aberglauben, daß diese Ader ein Todesbote sei, der kein mit ihm behaftetes Kind über die ersten Jahre hinüberkommen lasse. So lange der Knabe gesund war, bemerkte man dies Zeichen wenig, jetzt trat es unverkennbar hervor. Es mag in der That bei manchen Kindern auf Schwäche deuten, und da es im reifen Alter ganz verschwindet, so ist es freilich richtig, daß kein gesunder und erwachsener Mensch dasselbe an sich trägt. Aber nur einen Augenblick siegte der Aberglaube über das Mutterherz. Tante, sagte sie, es kann sein, daß Ihr Recht habt. Aber ein Jahr hat mein Kind gelebt trotz dem Todesäderchen, und wenn es diese Nacht stirbt, so stirbt es nicht an der Ader, sondern

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T12:40:10Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T12:40:10Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_margret_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_margret_1910/54
Zitationshilfe: Kinkel, Gottfried: Margret. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 4. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 199–262. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_margret_1910/54>, abgerufen am 24.11.2024.