Kerner, Justinus: Gedichte. Stuttgart u. a., 1826.Die Stiftung des Klosters Hirschau. Helicena eine Wittwe war, Reich, fromm vor andern Frauen, Sie strebte brünstig, ganz und gar Sich Jesum anzutrauen. Drum warf sie oft sich auf die Knie', Er möcht' ihr offenbaren: Wie ihre Erdengüter sie, Ihm treulich könnt' bewahren. Da lag sie in der Nacht einmal, Gewiegt in fromme Träume, Und sah ein seltsam fremdes Thal, Darin drei Fichtenbäume. Die Bäume waren wundersam Aus einem Stamm gesprossen; Aus ihren duft'gen Wurzeln kam Ein klarer Born geflossen. Und ob der fremden Wunderau
Sah sie am Himmel wallen, Ein hohes Dom auf Wolken blau, Hört eine Stimme schallen: "Dieß Gotteshaus, du fromme Braut! Sey, wo die Bäume stehen, In festen Grund von dir gebaut! Nimm's aus geweihten Höhen!" Die Stiftung des Kloſters Hirſchau. Helicena eine Wittwe war, Reich, fromm vor andern Frauen, Sie ſtrebte bruͤnſtig, ganz und gar Sich Jeſum anzutrauen. Drum warf ſie oft ſich auf die Knie', Er moͤcht' ihr offenbaren: Wie ihre Erdenguͤter ſie, Ihm treulich koͤnnt' bewahren. Da lag ſie in der Nacht einmal, Gewiegt in fromme Traͤume, Und ſah ein ſeltſam fremdes Thal, Darin drei Fichtenbaͤume. Die Baͤume waren wunderſam Aus einem Stamm geſproſſen; Aus ihren duft'gen Wurzeln kam Ein klarer Born gefloſſen. Und ob der fremden Wunderau
Sah ſie am Himmel wallen, Ein hohes Dom auf Wolken blau, Hoͤrt eine Stimme ſchallen: „Dieß Gotteshaus, du fromme Braut! Sey, wo die Baͤume ſtehen, In feſten Grund von dir gebaut! Nimm's aus geweihten Hoͤhen!“ <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0090" n="78"/> <lg type="poem"> <head><hi rendition="#g">Die Stiftung des Kloſters Hirſchau</hi>.</head><lb/> <l> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> </l> <lg n="1"> <l>Helicena eine Wittwe war,</l><lb/> <l>Reich, fromm vor andern Frauen,</l><lb/> <l>Sie ſtrebte bruͤnſtig, ganz und gar</l><lb/> <l>Sich Jeſum anzutrauen.</l><lb/> <l>Drum warf ſie oft ſich auf die Knie',</l><lb/> <l>Er moͤcht' ihr offenbaren:</l><lb/> <l>Wie ihre Erdenguͤter ſie,</l><lb/> <l>Ihm treulich koͤnnt' bewahren.</l> </lg><lb/> <lg n="2"> <l>Da lag ſie in der Nacht einmal,</l><lb/> <l>Gewiegt in fromme Traͤume,</l><lb/> <l>Und ſah ein ſeltſam fremdes Thal,</l><lb/> <l>Darin drei Fichtenbaͤume.</l><lb/> <l>Die Baͤume waren wunderſam</l><lb/> <l>Aus einem Stamm geſproſſen;</l><lb/> <l>Aus ihren duft'gen Wurzeln kam</l><lb/> <l>Ein klarer Born gefloſſen.</l> </lg><lb/> <lg n="3"> <l>Und ob der fremden Wunderau</l><lb/> <l>Sah ſie am Himmel wallen,</l><lb/> <l>Ein hohes Dom auf Wolken blau,</l><lb/> <l>Hoͤrt eine Stimme ſchallen:</l><lb/> <l>„Dieß Gotteshaus, du fromme Braut!</l><lb/> <l>Sey, wo die Baͤume ſtehen,</l><lb/> <l>In feſten Grund von dir gebaut!</l><lb/> <l>Nimm's aus geweihten Hoͤhen!“</l> </lg><lb/> <l> </l> </lg> </body> </text> </TEI> [78/0090]
Die Stiftung des Kloſters Hirſchau.
Helicena eine Wittwe war,
Reich, fromm vor andern Frauen,
Sie ſtrebte bruͤnſtig, ganz und gar
Sich Jeſum anzutrauen.
Drum warf ſie oft ſich auf die Knie',
Er moͤcht' ihr offenbaren:
Wie ihre Erdenguͤter ſie,
Ihm treulich koͤnnt' bewahren.
Da lag ſie in der Nacht einmal,
Gewiegt in fromme Traͤume,
Und ſah ein ſeltſam fremdes Thal,
Darin drei Fichtenbaͤume.
Die Baͤume waren wunderſam
Aus einem Stamm geſproſſen;
Aus ihren duft'gen Wurzeln kam
Ein klarer Born gefloſſen.
Und ob der fremden Wunderau
Sah ſie am Himmel wallen,
Ein hohes Dom auf Wolken blau,
Hoͤrt eine Stimme ſchallen:
„Dieß Gotteshaus, du fromme Braut!
Sey, wo die Baͤume ſtehen,
In feſten Grund von dir gebaut!
Nimm's aus geweihten Hoͤhen!“
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Zitationshilfe: | Kerner, Justinus: Gedichte. Stuttgart u. a., 1826, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kerner_gedichte_1826/90>, abgerufen am 15.08.2024. |