dieses Vaters erhielt eines Tages der Schultheiß von Or- lach das Wochenblatt von Hall, als gerade das Mädchen diesen Anfall hatte. Dieses Wochenblatt enthält am An- fang einen immerwährenden Kalender, in welchem eine Begebenheit aus der Geschichte, welche einst an diesem Tag sich zugetragen hat, erzählt wird. Dießmal fanden nun die Männer eine Anekdote von einem Grafen, der bey Tin- genthal (einem etwa sechs Stunden entfernten Dorfe) im fünfzehnten Jahrhundert jagte, wobey ein Hase sich in das Dorf, und zuletzt durch die offene Kirchthür hinter das Bild der Mutter Gottes flüchtete, was auf den Grafen und seine Begleiter einen solchen Eindruck machte, daß er den Hasen lebenslänglich füttern ließ u. s. w. Diese Geschichte war den Männern gänzlich unbekannt, und sie konnten mit derselben Gewißheit voraussetzen, daß sie auch dem Mäd- chen eben so unbekannt sey (ich selbst, ob ich gleich lange in der Gegend lebte, hatte sie nie erzählen hören, und kann versichern, daß es keine, in unserer Gegend bekannte Volks- sage ist). Da nun die Geschichte gerade in die Zeit fällt, in welcher der Mönch behauptete, gelebt zu haben, so be- schlossen beide Männer, eine Probe zu machen, ob er et- was davon wisse. Sie gingen daher zu ihm und fragten: was ist in dem Jahr ....... vorgefallen? Antwort: Da ist viel vorgefallen, du mußt mir sagen wo? Er: Ey zu Tingen- thal! Antwort: Nicht wahr, du meinst die Geschichte von dem Hasen, welcher verfolgt wurde auf der Jagd, sich in die Kirche hinter das dumme Bild flüchtete" u. s. w. und erzählte noch umständlicher den ganzen Vorfall. Wachend wußte sie von diesem allem nichts.
Doch nicht nur mit der Geschichte selbst, sondern auch mit dem Ort meines Referats kann die Redaktion nicht über- einstimmen. Sie findet es für inconsequent, daß ich an diese Geister zugleich zu glauben und nicht zu glauben scheine, und meint, es stehe mit meiner Darstellungsweise im Wi- derspruch, wenn ich bedaure, daß diese Geschichte dem Aberglauben des Landvolks so sehr zur Nahrung diene. Man
dieſes Vaters erhielt eines Tages der Schultheiß von Or- lach das Wochenblatt von Hall, als gerade das Mädchen dieſen Anfall hatte. Dieſes Wochenblatt enthält am An- fang einen immerwährenden Kalender, in welchem eine Begebenheit aus der Geſchichte, welche einſt an dieſem Tag ſich zugetragen hat, erzählt wird. Dießmal fanden nun die Männer eine Anekdote von einem Grafen, der bey Tin- genthal (einem etwa ſechs Stunden entfernten Dorfe) im fünfzehnten Jahrhundert jagte, wobey ein Haſe ſich in das Dorf, und zuletzt durch die offene Kirchthür hinter das Bild der Mutter Gottes flüchtete, was auf den Grafen und ſeine Begleiter einen ſolchen Eindruck machte, daß er den Haſen lebenslänglich füttern ließ u. ſ. w. Dieſe Geſchichte war den Männern gänzlich unbekannt, und ſie konnten mit derſelben Gewißheit vorausſetzen, daß ſie auch dem Mäd- chen eben ſo unbekannt ſey (ich ſelbſt, ob ich gleich lange in der Gegend lebte, hatte ſie nie erzählen hören, und kann verſichern, daß es keine, in unſerer Gegend bekannte Volks- ſage iſt). Da nun die Geſchichte gerade in die Zeit fällt, in welcher der Mönch behauptete, gelebt zu haben, ſo be- ſchloſſen beide Männer, eine Probe zu machen, ob er et- was davon wiſſe. Sie gingen daher zu ihm und fragten: was iſt in dem Jahr ....... vorgefallen? Antwort: Da iſt viel vorgefallen, du mußt mir ſagen wo? Er: Ey zu Tingen- thal! Antwort: Nicht wahr, du meinſt die Geſchichte von dem Haſen, welcher verfolgt wurde auf der Jagd, ſich in die Kirche hinter das dumme Bild flüchtete“ u. ſ. w. und erzählte noch umſtändlicher den ganzen Vorfall. Wachend wußte ſie von dieſem allem nichts.
Doch nicht nur mit der Geſchichte ſelbſt, ſondern auch mit dem Ort meines Referats kann die Redaktion nicht über- einſtimmen. Sie findet es für inconſequent, daß ich an dieſe Geiſter zugleich zu glauben und nicht zu glauben ſcheine, und meint, es ſtehe mit meiner Darſtellungsweiſe im Wi- derſpruch, wenn ich bedaure, daß dieſe Geſchichte dem Aberglauben des Landvolks ſo ſehr zur Nahrung diene. Man
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dieſes Vaters erhielt eines Tages der Schultheiß von Or-
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Begebenheit aus der Geſchichte, welche einſt an dieſem Tag
ſich zugetragen hat, erzählt wird. Dießmal fanden nun
die Männer eine Anekdote von einem Grafen, der bey Tin-
genthal (einem etwa ſechs Stunden entfernten Dorfe) im
fünfzehnten Jahrhundert jagte, wobey ein Haſe ſich in das
Dorf, und zuletzt durch die offene Kirchthür hinter das Bild
der Mutter Gottes flüchtete, was auf den Grafen und
ſeine Begleiter einen ſolchen Eindruck machte, daß er den
Haſen lebenslänglich füttern ließ u. ſ. w. Dieſe Geſchichte
war den Männern gänzlich unbekannt, und ſie konnten
mit derſelben Gewißheit vorausſetzen, daß ſie auch dem Mäd-
chen eben ſo unbekannt ſey (ich ſelbſt, ob ich gleich lange
in der Gegend lebte, hatte ſie nie erzählen hören, und kann
verſichern, daß es keine, in unſerer Gegend bekannte Volks-
ſage iſt). Da nun die Geſchichte gerade in die Zeit fällt,
in welcher der Mönch behauptete, gelebt zu haben, ſo be-
ſchloſſen beide Männer, eine Probe zu machen, ob er et-
was davon wiſſe. Sie gingen daher zu ihm und fragten: was
iſt in dem Jahr ....... vorgefallen? Antwort: Da iſt viel
vorgefallen, du mußt mir ſagen wo? Er: Ey zu Tingen-
thal! Antwort: Nicht wahr, du meinſt die Geſchichte von
dem Haſen, welcher verfolgt wurde auf der Jagd, ſich in
die Kirche hinter das dumme Bild flüchtete“ u. ſ. w. und
erzählte noch umſtändlicher den ganzen Vorfall. Wachend
wußte ſie von dieſem allem nichts.
Doch nicht nur mit der Geſchichte ſelbſt, ſondern auch mit
dem Ort meines Referats kann die Redaktion nicht über-
einſtimmen. Sie findet es für inconſequent, daß ich an dieſe
Geiſter zugleich zu glauben und nicht zu glauben ſcheine,
und meint, es ſtehe mit meiner Darſtellungsweiſe im Wi-
derſpruch, wenn ich bedaure, daß dieſe Geſchichte dem
Aberglauben des Landvolks ſo ſehr zur Nahrung diene. Man
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Kerner, Justinus: Geschichten Besessener neuerer Zeit. Karlsruhe, 1834, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kerner_besessene_1834/85>, abgerufen am 17.02.2025.
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