schen auf Erden sich drüben entwickeln, vervollkommnen, entfalten, ihre Thorheit abschütteln und ein anderes Ge- schlecht aus ihr entstehen muß, und ob er hier den lang- müthigen Gott nicht mit menschlichem Maßstab, oder nach der Wanduhr die Ewigkeit messen läßt. Auch ob ein Ge- fangener verdummen muß, dem man in seinem Kerker Zeit läßt, sich zu besinnen, von seinem leidenschaftlichen Trei- ben sich abzukühlen, die Augen nach Gott zu richten und den auch wohl von Zeit zu Zeit ein Seelsorger besucht, weil des Richters Absicht ist, ihn zu bekehren und zu bes- sern. Endlich, ob der Denkgläubige berechnen und uns die Versicherung geben kann, daß und in welcher kurzen Frist alle Narren eines Irrenhauses als geheilt entlassen werden können. Was aber hier Jahre sind, das mögen dort wohl Jahrhunderte nach hiesigem Zeitmaß seyn. Oder noch dieß: warum dort bloße Anomalien seyn müssen, was hier die Regel ist; wofern wir nicht mit dem Tode selbst eine nir- gends geoffenbarte, nirgends erweisliche Verwandlungskraft beylegen wollen."
Der Denkgläubige sagt: "So auffallend auch immerhin die Aufschlüsse sind, welche unsere Geister und Somnam- bülen schon gegeben haben, so ist es doch nur Sternen- licht -- das zwar aus einer höhern geheimnißvollen Welt stammt, aber mit dem klaren Sonnenlichte der reinen ge- sunden Vernunft nicht verglichen werden kann. Alle diese Geister, welche uns durch ihre übernatürlichen Einsichten und Wirkungen in Erstaunen setzen, haben dennoch auch nicht eine große segensreiche Wahrheit, eine wichtige Ent- deckung der Menschheit gebracht und selbst die Maschinen, die sie erfunden haben, kommen nicht einmal unserm Pflug oder Spinnrad gleich. Nie werden sie unsern großen Gei- stern mit natürlichem Berstande an die Seite gestellt wer- den können, sie waren nur Seltenheiten, die Erstaunen er- regten, aber keinen bleibenden Gewinn brachten.
Der Freund entgegnet: "Der Zweifler verfällt hier in den Ton des Rationalismus nnd hält die "reine gesunde
ſchen auf Erden ſich drüben entwickeln, vervollkommnen, entfalten, ihre Thorheit abſchütteln und ein anderes Ge- ſchlecht aus ihr entſtehen muß, und ob er hier den lang- müthigen Gott nicht mit menſchlichem Maßſtab, oder nach der Wanduhr die Ewigkeit meſſen läßt. Auch ob ein Ge- fangener verdummen muß, dem man in ſeinem Kerker Zeit läßt, ſich zu beſinnen, von ſeinem leidenſchaftlichen Trei- ben ſich abzukühlen, die Augen nach Gott zu richten und den auch wohl von Zeit zu Zeit ein Seelſorger beſucht, weil des Richters Abſicht iſt, ihn zu bekehren und zu beſ- ſern. Endlich, ob der Denkgläubige berechnen und uns die Verſicherung geben kann, daß und in welcher kurzen Friſt alle Narren eines Irrenhauſes als geheilt entlaſſen werden können. Was aber hier Jahre ſind, das mögen dort wohl Jahrhunderte nach hieſigem Zeitmaß ſeyn. Oder noch dieß: warum dort bloße Anomalien ſeyn müſſen, was hier die Regel iſt; wofern wir nicht mit dem Tode ſelbſt eine nir- gends geoffenbarte, nirgends erweisliche Verwandlungskraft beylegen wollen.“
Der Denkgläubige ſagt: „So auffallend auch immerhin die Aufſchlüſſe ſind, welche unſere Geiſter und Somnam- bülen ſchon gegeben haben, ſo iſt es doch nur Sternen- licht — das zwar aus einer höhern geheimnißvollen Welt ſtammt, aber mit dem klaren Sonnenlichte der reinen ge- ſunden Vernunft nicht verglichen werden kann. Alle dieſe Geiſter, welche uns durch ihre übernatürlichen Einſichten und Wirkungen in Erſtaunen ſetzen, haben dennoch auch nicht eine große ſegensreiche Wahrheit, eine wichtige Ent- deckung der Menſchheit gebracht und ſelbſt die Maſchinen, die ſie erfunden haben, kommen nicht einmal unſerm Pflug oder Spinnrad gleich. Nie werden ſie unſern großen Gei- ſtern mit natürlichem Berſtande an die Seite geſtellt wer- den können, ſie waren nur Seltenheiten, die Erſtaunen er- regten, aber keinen bleibenden Gewinn brachten.
Der Freund entgegnet: „Der Zweifler verfällt hier in den Ton des Rationalismus nnd hält die „reine geſunde
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ſchen auf Erden ſich drüben entwickeln, vervollkommnen,
entfalten, ihre Thorheit abſchütteln und ein anderes Ge-
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müthigen Gott nicht mit menſchlichem Maßſtab, oder nach
der Wanduhr die Ewigkeit meſſen läßt. Auch ob ein Ge-
fangener verdummen muß, dem man in ſeinem Kerker Zeit
läßt, ſich zu beſinnen, von ſeinem leidenſchaftlichen Trei-
ben ſich abzukühlen, die Augen nach Gott zu richten und
den auch wohl von Zeit zu Zeit ein Seelſorger beſucht,
weil des Richters Abſicht iſt, ihn zu bekehren und zu beſ-
ſern. Endlich, ob der Denkgläubige berechnen und uns die
Verſicherung geben kann, daß und in welcher kurzen Friſt
alle Narren eines Irrenhauſes als geheilt entlaſſen werden
können. Was aber hier Jahre ſind, das mögen dort wohl
Jahrhunderte nach hieſigem Zeitmaß ſeyn. Oder noch dieß:
warum dort bloße Anomalien ſeyn müſſen, was hier die
Regel iſt; wofern wir nicht mit dem Tode ſelbſt eine nir-
gends geoffenbarte, nirgends erweisliche Verwandlungskraft
beylegen wollen.“
Der Denkgläubige ſagt: „So auffallend auch immerhin
die Aufſchlüſſe ſind, welche unſere Geiſter und Somnam-
bülen ſchon gegeben haben, ſo iſt es doch nur Sternen-
licht — das zwar aus einer höhern geheimnißvollen Welt
ſtammt, aber mit dem klaren Sonnenlichte der reinen ge-
ſunden Vernunft nicht verglichen werden kann. Alle dieſe
Geiſter, welche uns durch ihre übernatürlichen Einſichten
und Wirkungen in Erſtaunen ſetzen, haben dennoch auch
nicht eine große ſegensreiche Wahrheit, eine wichtige Ent-
deckung der Menſchheit gebracht und ſelbſt die Maſchinen,
die ſie erfunden haben, kommen nicht einmal unſerm Pflug
oder Spinnrad gleich. Nie werden ſie unſern großen Gei-
ſtern mit natürlichem Berſtande an die Seite geſtellt wer-
den können, ſie waren nur Seltenheiten, die Erſtaunen er-
regten, aber keinen bleibenden Gewinn brachten.
Der Freund entgegnet: „Der Zweifler verfällt hier in
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Kerner, Justinus: Geschichten Besessener neuerer Zeit. Karlsruhe, 1834, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kerner_besessene_1834/68>, abgerufen am 18.07.2024.
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