glauben, zu denen auch ohne Zweifel der würdige Verfas- ser gehört. Wem bringen jene religiösen Ansichten über das zukünftige Leben die Schrecken des Todes wieder? Nicht "uns" die wir glauben, sondern denen, für die Je- sus Christus der Heiland noch nicht erschienen ist, weil sie nicht an sein Heil glauben wollen, und für die er daher bis jetzt die Schrecken des Todes nicht hat vernichten kön- nen. Wer aus Eigensinn, aus Verstocktheit, aus Ueber- muth, ohne Christum in der Welt lebt, erschrickt mit Recht vor dem Tode, und damit er heilsam erschrecke, kommen solche außerordentliche Begebenheiten, die einen Blick in das Leben nach dem Tode eröffnen, ob sie gleich öfter ver- loren als wirksam sind. Einige Theologen bilden sich ein, Christus habe den Hades, oder gar den Glauben daran, aufgehoben. Er hat ihn nicht aufgehoben, sondern geöff- net, indem er dessen Schlüssel hat."
Der Denkgläubige sagt: "Die Bibel lehrt ein rastloses Fortschreiten, ein ununterbrochenes Wirken in Gottes Reich; unsere Somnambülen und Geister wollen dagegen wissen, daß unzählige Geister oft 300--400 Jahre lang in Kel- lern und Gewölben, in Boden und Kammern zubringen müssen. Wie läßt sich das mit der Weisheit des Gottes vereinigen, der kein irdisches Pfund, viel weniger einen unsterblichen Menschengeist mit seinen Anlagen Jahrhun- derte lang vergräbt?"
Der Freund entgegnet: "Wir werden doch hoffentlich nicht glauben, daß ein Jeder nolens volens nach dem Tode (denn in diesem Leben geschieht es offenbar nicht) zur Voll- endung fortgerissen werde? Daß manches irdische, selbst günstige Pfund Jahrhunderte lang vergraben bleibt, ist eine gewisse Erfahrung. Handelt sich's hier von Naturschätzen, Entdeckungen, Wahrheiten, Schriften, so werden solche oft erst nach langer Zeit gefunden, geachtet, benutzt. Wenn aber der Verfasser der heiligen Schrift Glauben beymißt, so muß er auch glauben, daß nicht nur Seelen 300--400 Jahre lang in Kellern, Kammern zubringen können, näm-
glauben, zu denen auch ohne Zweifel der würdige Verfaſ- ſer gehört. Wem bringen jene religiöſen Anſichten über das zukünftige Leben die Schrecken des Todes wieder? Nicht „uns“ die wir glauben, ſondern denen, für die Je- ſus Chriſtus der Heiland noch nicht erſchienen iſt, weil ſie nicht an ſein Heil glauben wollen, und für die er daher bis jetzt die Schrecken des Todes nicht hat vernichten kön- nen. Wer aus Eigenſinn, aus Verſtocktheit, aus Ueber- muth, ohne Chriſtum in der Welt lebt, erſchrickt mit Recht vor dem Tode, und damit er heilſam erſchrecke, kommen ſolche außerordentliche Begebenheiten, die einen Blick in das Leben nach dem Tode eröffnen, ob ſie gleich öfter ver- loren als wirkſam ſind. Einige Theologen bilden ſich ein, Chriſtus habe den Hades, oder gar den Glauben daran, aufgehoben. Er hat ihn nicht aufgehoben, ſondern geöff- net, indem er deſſen Schlüſſel hat.“
Der Denkgläubige ſagt: „Die Bibel lehrt ein raſtloſes Fortſchreiten, ein ununterbrochenes Wirken in Gottes Reich; unſere Somnambülen und Geiſter wollen dagegen wiſſen, daß unzählige Geiſter oft 300—400 Jahre lang in Kel- lern und Gewölben, in Boden und Kammern zubringen müſſen. Wie läßt ſich das mit der Weisheit des Gottes vereinigen, der kein irdiſches Pfund, viel weniger einen unſterblichen Menſchengeiſt mit ſeinen Anlagen Jahrhun- derte lang vergräbt?“
Der Freund entgegnet: „Wir werden doch hoffentlich nicht glauben, daß ein Jeder nolens volens nach dem Tode (denn in dieſem Leben geſchieht es offenbar nicht) zur Voll- endung fortgeriſſen werde? Daß manches irdiſche, ſelbſt günſtige Pfund Jahrhunderte lang vergraben bleibt, iſt eine gewiſſe Erfahrung. Handelt ſich’s hier von Naturſchätzen, Entdeckungen, Wahrheiten, Schriften, ſo werden ſolche oft erſt nach langer Zeit gefunden, geachtet, benutzt. Wenn aber der Verfaſſer der heiligen Schrift Glauben beymißt, ſo muß er auch glauben, daß nicht nur Seelen 300—400 Jahre lang in Kellern, Kammern zubringen können, näm-
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glauben, zu denen auch ohne Zweifel der würdige Verfaſ-
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das zukünftige Leben die Schrecken des Todes wieder?
Nicht „uns“ die wir glauben, ſondern denen, für die Je-
ſus Chriſtus der Heiland noch nicht erſchienen iſt, weil ſie
nicht an ſein Heil glauben wollen, und für die er daher
bis jetzt die Schrecken des Todes nicht hat vernichten kön-
nen. Wer aus Eigenſinn, aus Verſtocktheit, aus Ueber-
muth, ohne Chriſtum in der Welt lebt, erſchrickt mit Recht
vor dem Tode, und damit er heilſam erſchrecke, kommen
ſolche außerordentliche Begebenheiten, die einen Blick in
das Leben nach dem Tode eröffnen, ob ſie gleich öfter ver-
loren als wirkſam ſind. Einige Theologen bilden ſich ein,
Chriſtus habe den Hades, oder gar den Glauben daran,
aufgehoben. Er hat ihn nicht aufgehoben, ſondern geöff-
net, indem er deſſen Schlüſſel hat.“
Der Denkgläubige ſagt: „Die Bibel lehrt ein raſtloſes
Fortſchreiten, ein ununterbrochenes Wirken in Gottes Reich;
unſere Somnambülen und Geiſter wollen dagegen wiſſen,
daß unzählige Geiſter oft 300—400 Jahre lang in Kel-
lern und Gewölben, in Boden und Kammern zubringen
müſſen. Wie läßt ſich das mit der Weisheit des Gottes
vereinigen, der kein irdiſches Pfund, viel weniger einen
unſterblichen Menſchengeiſt mit ſeinen Anlagen Jahrhun-
derte lang vergräbt?“
Der Freund entgegnet: „Wir werden doch hoffentlich nicht
glauben, daß ein Jeder nolens volens nach dem Tode
(denn in dieſem Leben geſchieht es offenbar nicht) zur Voll-
endung fortgeriſſen werde? Daß manches irdiſche, ſelbſt
günſtige Pfund Jahrhunderte lang vergraben bleibt, iſt eine
gewiſſe Erfahrung. Handelt ſich’s hier von Naturſchätzen,
Entdeckungen, Wahrheiten, Schriften, ſo werden ſolche oft
erſt nach langer Zeit gefunden, geachtet, benutzt. Wenn
aber der Verfaſſer der heiligen Schrift Glauben beymißt,
ſo muß er auch glauben, daß nicht nur Seelen 300—400
Jahre lang in Kellern, Kammern zubringen können, näm-
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Kerner, Justinus: Geschichten Besessener neuerer Zeit. Karlsruhe, 1834, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kerner_besessene_1834/66>, abgerufen am 17.07.2024.
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