der Mauer gekommen, welche das Eck des Hauses bildete, und von ganz anderer Beschaffenheit als der übrige Theil war. Während die andern Mauern nur von Leim aufge- führt waren, so war dieses Stück mit ganz besonderem Kalk und fester verbunden, so daß es wirklich scheint, diese Mauer stamme von einem sehr alten Gebäude her. Mit dem Sinken dieses Theils des Gebäudes auch (was das Mäd- chen nicht sehen konnte) es war jetzt halb zwölf Uhr, und zwar mit dem Abbruch des letzten Steins desselben, trat bey dem Mädchen ein dreymaliges Neigen des Kopfes auf die rechte Seite ein, ihre Augen schlugen sich auf. Der Dämon war aus ihr gewichen und ihr natürliches Leben war wie- der da. Herr Pfarrer Gerber beschreibt als Augenzeuge den Moment, nachdem der letzte Stein jener Mauer ge- fallen war, also: "In diesem Moment wendete sich ihr Haupt auf die rechte Seite und sie schlug die Augen auf, die nun hell und voll Verwunderung über die vielen Per- sonen, welche sie umgaben, um sich schauten. Auf einmal fiel es ihr ein, was mit ihr vorgegangen war, sie deckte beschämt mit beyden Händen das Gesicht -- fing an zu weinen, erhob sich, noch halb taumelnd, wie ein Mensch, der aus einem schweren Schlaf erwacht -- und eilte fort. Ich sah nach der Uhr, -- es war -- halb zwölf! Nie werde ich das Ueberraschende dieses Anblicks vergessen, nie den wunderbaren Uebergang von den entstellten dämoni- schen Gesichtzügen der, wie soll ich sie nennen -- Kranken, zu dem rein menschlichen, freundlichen Antlitz der Erwachten; von der widrigen hohlen Geisterstimme zu dem gewohnten Klange der Mädchenstimme, von der verborgenen, theils gelähmten, theils rastlos bewegten Stellung des Körpers, zu der schönen Gestalt, die wie mit einem Zauberschlage vor uns stund. Alles freute sich, alles wünschte dem Mädchen, wünschte den Eltern Glück: denn die guten Menschen waren fest überzeugt, daß nun der schwarze Geist zum letztenmale da gewesen sey.
Der Vater zeigte mir hierauf das verbrannte Tuch, das
der Mauer gekommen, welche das Eck des Hauſes bildete, und von ganz anderer Beſchaffenheit als der übrige Theil war. Während die andern Mauern nur von Leim aufge- führt waren, ſo war dieſes Stück mit ganz beſonderem Kalk und feſter verbunden, ſo daß es wirklich ſcheint, dieſe Mauer ſtamme von einem ſehr alten Gebäude her. Mit dem Sinken dieſes Theils des Gebäudes auch (was das Mäd- chen nicht ſehen konnte) es war jetzt halb zwölf Uhr, und zwar mit dem Abbruch des letzten Steins deſſelben, trat bey dem Mädchen ein dreymaliges Neigen des Kopfes auf die rechte Seite ein, ihre Augen ſchlugen ſich auf. Der Dämon war aus ihr gewichen und ihr natürliches Leben war wie- der da. Herr Pfarrer Gerber beſchreibt als Augenzeuge den Moment, nachdem der letzte Stein jener Mauer ge- fallen war, alſo: „In dieſem Moment wendete ſich ihr Haupt auf die rechte Seite und ſie ſchlug die Augen auf, die nun hell und voll Verwunderung über die vielen Per- ſonen, welche ſie umgaben, um ſich ſchauten. Auf einmal fiel es ihr ein, was mit ihr vorgegangen war, ſie deckte beſchämt mit beyden Händen das Geſicht — fing an zu weinen, erhob ſich, noch halb taumelnd, wie ein Menſch, der aus einem ſchweren Schlaf erwacht — und eilte fort. Ich ſah nach der Uhr, — es war — halb zwölf! Nie werde ich das Ueberraſchende dieſes Anblicks vergeſſen, nie den wunderbaren Uebergang von den entſtellten dämoni- ſchen Geſichtzügen der, wie ſoll ich ſie nennen — Kranken, zu dem rein menſchlichen, freundlichen Antlitz der Erwachten; von der widrigen hohlen Geiſterſtimme zu dem gewohnten Klange der Mädchenſtimme, von der verborgenen, theils gelähmten, theils raſtlos bewegten Stellung des Körpers, zu der ſchönen Geſtalt, die wie mit einem Zauberſchlage vor uns ſtund. Alles freute ſich, alles wünſchte dem Mädchen, wünſchte den Eltern Glück: denn die guten Menſchen waren feſt überzeugt, daß nun der ſchwarze Geiſt zum letztenmale da geweſen ſey.
Der Vater zeigte mir hierauf das verbrannte Tuch, das
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0059"n="45"/>
der Mauer gekommen, welche das Eck des Hauſes bildete,<lb/>
und von ganz anderer Beſchaffenheit als der übrige Theil<lb/>
war. Während die andern Mauern nur von Leim aufge-<lb/>
führt waren, ſo war dieſes Stück mit ganz beſonderem<lb/>
Kalk und feſter verbunden, ſo daß es wirklich ſcheint, dieſe<lb/>
Mauer ſtamme von einem ſehr alten Gebäude her. Mit dem<lb/>
Sinken dieſes Theils des Gebäudes auch (was das Mäd-<lb/>
chen nicht ſehen konnte) es war jetzt halb zwölf Uhr, und<lb/>
zwar mit dem Abbruch des letzten Steins deſſelben, trat bey<lb/>
dem Mädchen ein dreymaliges Neigen des Kopfes auf die<lb/>
rechte Seite ein, ihre Augen ſchlugen ſich auf. Der Dämon<lb/>
war aus ihr gewichen und ihr natürliches Leben war wie-<lb/>
der da. Herr Pfarrer <hirendition="#g">Gerber</hi> beſchreibt als Augenzeuge<lb/>
den Moment, nachdem der letzte Stein jener Mauer ge-<lb/>
fallen war, alſo: „In dieſem Moment wendete ſich ihr<lb/>
Haupt auf die rechte Seite und ſie ſchlug die Augen auf,<lb/>
die nun hell und voll Verwunderung über die vielen Per-<lb/>ſonen, welche ſie umgaben, um ſich ſchauten. Auf einmal<lb/>
fiel es ihr ein, was mit ihr vorgegangen war, ſie deckte<lb/>
beſchämt mit beyden Händen das Geſicht — fing an zu<lb/>
weinen, erhob ſich, noch halb taumelnd, wie ein Menſch,<lb/>
der aus einem ſchweren Schlaf erwacht — und eilte fort.<lb/>
Ich ſah nach der Uhr, — es war — halb zwölf! Nie<lb/>
werde ich das Ueberraſchende dieſes Anblicks vergeſſen, nie<lb/>
den wunderbaren Uebergang von den entſtellten dämoni-<lb/>ſchen Geſichtzügen der, wie ſoll ich ſie nennen — Kranken,<lb/>
zu dem rein menſchlichen, freundlichen Antlitz der Erwachten;<lb/>
von der widrigen hohlen Geiſterſtimme zu dem gewohnten<lb/>
Klange der Mädchenſtimme, von der verborgenen, theils<lb/>
gelähmten, theils raſtlos bewegten Stellung des Körpers,<lb/>
zu der ſchönen Geſtalt, die wie mit einem Zauberſchlage<lb/>
vor uns ſtund. Alles freute ſich, alles wünſchte dem<lb/>
Mädchen, wünſchte den Eltern Glück: denn die guten<lb/>
Menſchen waren feſt überzeugt, daß nun der ſchwarze Geiſt<lb/>
zum letztenmale da geweſen ſey.</p><lb/><p>Der Vater zeigte mir hierauf das verbrannte Tuch, das<lb/></p></div></body></text></TEI>
[45/0059]
der Mauer gekommen, welche das Eck des Hauſes bildete,
und von ganz anderer Beſchaffenheit als der übrige Theil
war. Während die andern Mauern nur von Leim aufge-
führt waren, ſo war dieſes Stück mit ganz beſonderem
Kalk und feſter verbunden, ſo daß es wirklich ſcheint, dieſe
Mauer ſtamme von einem ſehr alten Gebäude her. Mit dem
Sinken dieſes Theils des Gebäudes auch (was das Mäd-
chen nicht ſehen konnte) es war jetzt halb zwölf Uhr, und
zwar mit dem Abbruch des letzten Steins deſſelben, trat bey
dem Mädchen ein dreymaliges Neigen des Kopfes auf die
rechte Seite ein, ihre Augen ſchlugen ſich auf. Der Dämon
war aus ihr gewichen und ihr natürliches Leben war wie-
der da. Herr Pfarrer Gerber beſchreibt als Augenzeuge
den Moment, nachdem der letzte Stein jener Mauer ge-
fallen war, alſo: „In dieſem Moment wendete ſich ihr
Haupt auf die rechte Seite und ſie ſchlug die Augen auf,
die nun hell und voll Verwunderung über die vielen Per-
ſonen, welche ſie umgaben, um ſich ſchauten. Auf einmal
fiel es ihr ein, was mit ihr vorgegangen war, ſie deckte
beſchämt mit beyden Händen das Geſicht — fing an zu
weinen, erhob ſich, noch halb taumelnd, wie ein Menſch,
der aus einem ſchweren Schlaf erwacht — und eilte fort.
Ich ſah nach der Uhr, — es war — halb zwölf! Nie
werde ich das Ueberraſchende dieſes Anblicks vergeſſen, nie
den wunderbaren Uebergang von den entſtellten dämoni-
ſchen Geſichtzügen der, wie ſoll ich ſie nennen — Kranken,
zu dem rein menſchlichen, freundlichen Antlitz der Erwachten;
von der widrigen hohlen Geiſterſtimme zu dem gewohnten
Klange der Mädchenſtimme, von der verborgenen, theils
gelähmten, theils raſtlos bewegten Stellung des Körpers,
zu der ſchönen Geſtalt, die wie mit einem Zauberſchlage
vor uns ſtund. Alles freute ſich, alles wünſchte dem
Mädchen, wünſchte den Eltern Glück: denn die guten
Menſchen waren feſt überzeugt, daß nun der ſchwarze Geiſt
zum letztenmale da geweſen ſey.
Der Vater zeigte mir hierauf das verbrannte Tuch, das
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Kerner, Justinus: Geschichten Besessener neuerer Zeit. Karlsruhe, 1834, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kerner_besessene_1834/59>, abgerufen am 17.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.