Kerner, Justinus: Geschichten Besessener neuerer Zeit. Karlsruhe, 1834.Nerven-Anomalieen. Der Patholog hat auch eine Rubrik "Insgemein," in Nerven-Anomalieen. Der Patholog hat auch eine Rubrik „Insgemein,“ in <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0188" n="174"/> <div n="2"> <head><hi rendition="#g">Nerven-Anomalieen</hi>.</head><lb/> <p>Der Patholog hat auch eine Rubrik „Insgemein,“ in<lb/> die er ſolche Erſcheinungen einſchiebt, die ſich unter keine<lb/> feſte Grundſätze bringen laſſen, welche ſich aber doch brau-<lb/> chen läßt, um das Unverſtandene wenigſtens durch das<lb/> Wort verſtändlich zu machen, nicht aber der Sache nach<lb/> zu erklären. Was im Innern des Organismus vorgehen<lb/> muß, bis es zu einer Epilepſie, Catalepſie, St. Veitstanz,<lb/> toniſchen und kloniſchen Krämpfen, und zu dem großen<lb/> Heer der hyſteriſchen und hypochondriſchen Zufälle kommen<lb/> kann, weiß die Pathologie nicht. Die Nerven im Zuſam-<lb/> menhang mit den Gefühlen gebähren die Krankheiten des<lb/> Gemeingefühls; die Nerven im Zuſammenhang mit der Ein-<lb/> bildungskraft gebähren die Viſionen, Phantasmen, Ge-<lb/> ſpenſter und Schreckgeſtalten, welche der Seele ein objecti-<lb/> ves Daſeyn vorſpiegeln, aber keines haben. Obgleich dieß<lb/> nur in den Träumen der Fall iſt, ſo kann doch ein ſolcher<lb/> Zuſtand auch in das wachende Leben fallen und in ihm<lb/> eine Reihe gleichförmig wiederkehrender Erſcheinungen kör-<lb/> perlich und geiſtig hervorbringen, welche, da uns die ge-<lb/> heimen Kräfte und Geſetze verborgen ſind, uns außerna-<lb/> türlich ſcheinen und uns das Bild eines Beſeſſenen auf-<lb/> dringen. Iſt die Einbildungskraft ſo lebhaft, daß ſie die<lb/> Vorſtellung ganz verdrängt, ſo kann ſie den Zuſammenhang<lb/> der wahren Perſönlichkeit mit der Außenwelt gänzlich auf-<lb/> heben, und alsdann tritt die Viſion als falſche Perſönlich-<lb/> keit ganz in das Bewußtſeyn und ſpielt daſelbſt kürzere<lb/> oder längere Zeit ſo gut ihre Rolle, als wäre ſie die wahre<lb/> Perſönlichkeit. Dem Umſtehenden kommt es dann ſo vor,<lb/> als wäre ein Dämon in die Perſon gefahren, während<lb/> blos eine Viſion Perſönlichkeit annahm. Dieß iſt der Er-<lb/> klärungsgrund von den Scenen und Erſcheinungen bey dem<lb/> Mädchen von Orlach und der Frau U .. n von J .. m.<lb/> Ihre Dämonen waren nichts anders, als perſönlich gewor-<lb/> dene Viſionen. Spielt ja der Irre die Rolle eines Königs<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [174/0188]
Nerven-Anomalieen.
Der Patholog hat auch eine Rubrik „Insgemein,“ in
die er ſolche Erſcheinungen einſchiebt, die ſich unter keine
feſte Grundſätze bringen laſſen, welche ſich aber doch brau-
chen läßt, um das Unverſtandene wenigſtens durch das
Wort verſtändlich zu machen, nicht aber der Sache nach
zu erklären. Was im Innern des Organismus vorgehen
muß, bis es zu einer Epilepſie, Catalepſie, St. Veitstanz,
toniſchen und kloniſchen Krämpfen, und zu dem großen
Heer der hyſteriſchen und hypochondriſchen Zufälle kommen
kann, weiß die Pathologie nicht. Die Nerven im Zuſam-
menhang mit den Gefühlen gebähren die Krankheiten des
Gemeingefühls; die Nerven im Zuſammenhang mit der Ein-
bildungskraft gebähren die Viſionen, Phantasmen, Ge-
ſpenſter und Schreckgeſtalten, welche der Seele ein objecti-
ves Daſeyn vorſpiegeln, aber keines haben. Obgleich dieß
nur in den Träumen der Fall iſt, ſo kann doch ein ſolcher
Zuſtand auch in das wachende Leben fallen und in ihm
eine Reihe gleichförmig wiederkehrender Erſcheinungen kör-
perlich und geiſtig hervorbringen, welche, da uns die ge-
heimen Kräfte und Geſetze verborgen ſind, uns außerna-
türlich ſcheinen und uns das Bild eines Beſeſſenen auf-
dringen. Iſt die Einbildungskraft ſo lebhaft, daß ſie die
Vorſtellung ganz verdrängt, ſo kann ſie den Zuſammenhang
der wahren Perſönlichkeit mit der Außenwelt gänzlich auf-
heben, und alsdann tritt die Viſion als falſche Perſönlich-
keit ganz in das Bewußtſeyn und ſpielt daſelbſt kürzere
oder längere Zeit ſo gut ihre Rolle, als wäre ſie die wahre
Perſönlichkeit. Dem Umſtehenden kommt es dann ſo vor,
als wäre ein Dämon in die Perſon gefahren, während
blos eine Viſion Perſönlichkeit annahm. Dieß iſt der Er-
klärungsgrund von den Scenen und Erſcheinungen bey dem
Mädchen von Orlach und der Frau U .. n von J .. m.
Ihre Dämonen waren nichts anders, als perſönlich gewor-
dene Viſionen. Spielt ja der Irre die Rolle eines Königs
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