das ihr wol selbst nicht bewußt war; doch flackerte das Flämmchen ihrer bescheidenen Lampe hell und tapfer in der Zugluft, welche durch das Treppenhaus wehte, weil die Vorgängerinnen wahrscheinlich die Bodenthüre offen gelassen.
Es vergingen nicht viele Tage, bis es Erwin gelang, das Mädchen mit seinem Lämpchen abermals in sein Zimmer zu locken, und bald stellte sich die Gewohnheit ein, daß Regine jeden Abend ein halbes oder auch ganzes Stündchen bei ihm eintrat, bald vor dem Aufstieg der anderen Mägde, bald nach demselben; wahrscheinlich war das bewahrte Geheimniß, die Heimlichkeit der vorzüglichste Anreiz, welcher der guten Freundschaft und dem Wohl¬ gefallen der jungen Leute den Charakter einer Liebschaft gab. Regine war aber so ganz von Vertrauen zu dem stets besonnenen und an sich haltenden Manne erfüllt, daß sie alle Bedenken aus den Augen setzte und sich rück¬ haltlos dem Vergnügen hingab, die kurzen Stunden eines besseren Daseins zu genießen. Sie war, mit Verlaub zu sagen, Weib genug, um von ihrer günstigen Erscheinung zu wissen; aber mit um so größerer Dankbarkeit empfand sie zum ersten Mal die Ehre, die ein gesitteter Mann ihrer Schönheit anthat, ohne daß sie wie eine gescheuchte Katze sich zu wehren brauchte. Erwin aber that ihr die Ehre an, weil er bereits den Gedanken groß zog, sich hier aus Dunkelheit und Noth die Gefährtin zu holen.
Also lebten sie in rein menschlicher Lebensluft so
das ihr wol ſelbſt nicht bewußt war; doch flackerte das Flämmchen ihrer beſcheidenen Lampe hell und tapfer in der Zugluft, welche durch das Treppenhaus wehte, weil die Vorgängerinnen wahrſcheinlich die Bodenthüre offen gelaſſen.
Es vergingen nicht viele Tage, bis es Erwin gelang, das Mädchen mit ſeinem Lämpchen abermals in ſein Zimmer zu locken, und bald ſtellte ſich die Gewohnheit ein, daß Regine jeden Abend ein halbes oder auch ganzes Stündchen bei ihm eintrat, bald vor dem Aufſtieg der anderen Mägde, bald nach demſelben; wahrſcheinlich war das bewahrte Geheimniß, die Heimlichkeit der vorzüglichſte Anreiz, welcher der guten Freundſchaft und dem Wohl¬ gefallen der jungen Leute den Charakter einer Liebſchaft gab. Regine war aber ſo ganz von Vertrauen zu dem ſtets beſonnenen und an ſich haltenden Manne erfüllt, daß ſie alle Bedenken aus den Augen ſetzte und ſich rück¬ haltlos dem Vergnügen hingab, die kurzen Stunden eines beſſeren Daſeins zu genießen. Sie war, mit Verlaub zu ſagen, Weib genug, um von ihrer günſtigen Erſcheinung zu wiſſen; aber mit um ſo größerer Dankbarkeit empfand ſie zum erſten Mal die Ehre, die ein geſitteter Mann ihrer Schönheit anthat, ohne daß ſie wie eine geſcheuchte Katze ſich zu wehren brauchte. Erwin aber that ihr die Ehre an, weil er bereits den Gedanken groß zog, ſich hier aus Dunkelheit und Noth die Gefährtin zu holen.
Alſo lebten ſie in rein menſchlicher Lebensluft ſo
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das ihr wol ſelbſt nicht bewußt war; doch flackerte das
Flämmchen ihrer beſcheidenen Lampe hell und tapfer in
der Zugluft, welche durch das Treppenhaus wehte, weil
die Vorgängerinnen wahrſcheinlich die Bodenthüre offen
gelaſſen.
Es vergingen nicht viele Tage, bis es Erwin gelang,
das Mädchen mit ſeinem Lämpchen abermals in ſein
Zimmer zu locken, und bald ſtellte ſich die Gewohnheit
ein, daß Regine jeden Abend ein halbes oder auch ganzes
Stündchen bei ihm eintrat, bald vor dem Aufſtieg der
anderen Mägde, bald nach demſelben; wahrſcheinlich war
das bewahrte Geheimniß, die Heimlichkeit der vorzüglichſte
Anreiz, welcher der guten Freundſchaft und dem Wohl¬
gefallen der jungen Leute den Charakter einer Liebſchaft
gab. Regine war aber ſo ganz von Vertrauen zu dem
ſtets beſonnenen und an ſich haltenden Manne erfüllt,
daß ſie alle Bedenken aus den Augen ſetzte und ſich rück¬
haltlos dem Vergnügen hingab, die kurzen Stunden eines
beſſeren Daſeins zu genießen. Sie war, mit Verlaub zu
ſagen, Weib genug, um von ihrer günſtigen Erſcheinung
zu wiſſen; aber mit um ſo größerer Dankbarkeit empfand
ſie zum erſten Mal die Ehre, die ein geſitteter Mann
ihrer Schönheit anthat, ohne daß ſie wie eine geſcheuchte
Katze ſich zu wehren brauchte. Erwin aber that ihr die
Ehre an, weil er bereits den Gedanken groß zog, ſich hier
aus Dunkelheit und Noth die Gefährtin zu holen.
Alſo lebten ſie in rein menſchlicher Lebensluft ſo
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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/96>, abgerufen am 24.11.2024.
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