Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

Bild:
<< vorherige Seite

das sei ja Alles nicht so betrüblich, wie es aussehe, und
werde sich schon ein Ausweg finden, sie solle nur so gut
und brav bleiben u. s. w. Ihr düster gewordenes An¬
gesicht hellte sich auch zusehends auf, so freundlich wirkte
der ungewohnte Zuspruch auf ihr einsames Gemüth, und
gewiß zehnmal wohlthuender, als wenn er sofort die Börse
gezogen und sie gefragt hätte, wie viel sie bedürfe.

Es lief indessen doch nicht ohne alle Bedenklichkeiten
ab; denn als sie, über die so schnell verflossene Stunde
erschreckend, sich entfernen wollte und die Zimmerthüre
öffnete, hörte man von der Treppe her ein Geräusch von
Weiberstimmen. Es waren die übrigen Dienstboten des
Hauses, die ihre Schlafstellen aufsuchten, und es schien
allerdings nicht gerathen, daß Regine in diesem Augen¬
blicke aus der Thüre des fremden Herrn und Haus¬
genossen trat. Sie drückte ängstlich die Thüre wieder zu
und blickte dabei den Herrn Erwin Altenauer leicht
erblassend an, ungefähr wie wenn es an einem Frühlings¬
abende schwach wetterleuchtet, und Erwin half ihr wort¬
los auf das Verhallen der Mädchenstimmen lauschen. In
diesem Augenblicke sahen sie sich an und wußten, daß sie
allein zusammen seien und ein Geheimniß hatten, wenn
auch ein unschuldiges. Als man nichts mehr hörte,
öffnete Erwin sachte die äußere Thüre und entließ die
schöne große Jungfrau mit ihrem Lämpchen. Mit milden
klugen Augen, ein wenig traurig wie immer, nickte sie
ihm gute Nacht; etwas Neuartiges lag in ihrem Blicke,

das ſei ja Alles nicht ſo betrüblich, wie es ausſehe, und
werde ſich ſchon ein Ausweg finden, ſie ſolle nur ſo gut
und brav bleiben u. ſ. w. Ihr düſter gewordenes An¬
geſicht hellte ſich auch zuſehends auf, ſo freundlich wirkte
der ungewohnte Zuſpruch auf ihr einſames Gemüth, und
gewiß zehnmal wohlthuender, als wenn er ſofort die Börſe
gezogen und ſie gefragt hätte, wie viel ſie bedürfe.

Es lief indeſſen doch nicht ohne alle Bedenklichkeiten
ab; denn als ſie, über die ſo ſchnell verfloſſene Stunde
erſchreckend, ſich entfernen wollte und die Zimmerthüre
öffnete, hörte man von der Treppe her ein Geräuſch von
Weiberſtimmen. Es waren die übrigen Dienſtboten des
Hauſes, die ihre Schlafſtellen aufſuchten, und es ſchien
allerdings nicht gerathen, daß Regine in dieſem Augen¬
blicke aus der Thüre des fremden Herrn und Haus¬
genoſſen trat. Sie drückte ängſtlich die Thüre wieder zu
und blickte dabei den Herrn Erwin Altenauer leicht
erblaſſend an, ungefähr wie wenn es an einem Frühlings¬
abende ſchwach wetterleuchtet, und Erwin half ihr wort¬
los auf das Verhallen der Mädchenſtimmen lauſchen. In
dieſem Augenblicke ſahen ſie ſich an und wußten, daß ſie
allein zuſammen ſeien und ein Geheimniß hatten, wenn
auch ein unſchuldiges. Als man nichts mehr hörte,
öffnete Erwin ſachte die äußere Thüre und entließ die
ſchöne große Jungfrau mit ihrem Lämpchen. Mit milden
klugen Augen, ein wenig traurig wie immer, nickte ſie
ihm gute Nacht; etwas Neuartiges lag in ihrem Blicke,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0095" n="85"/>
das &#x017F;ei ja Alles nicht &#x017F;o betrüblich, wie es aus&#x017F;ehe, und<lb/>
werde &#x017F;ich &#x017F;chon ein Ausweg finden, &#x017F;ie &#x017F;olle nur &#x017F;o gut<lb/>
und brav bleiben u. &#x017F;. w. Ihr dü&#x017F;ter gewordenes An¬<lb/>
ge&#x017F;icht hellte &#x017F;ich auch zu&#x017F;ehends auf, &#x017F;o freundlich wirkte<lb/>
der ungewohnte Zu&#x017F;pruch auf ihr ein&#x017F;ames Gemüth, und<lb/>
gewiß zehnmal wohlthuender, als wenn er &#x017F;ofort die Bör&#x017F;e<lb/>
gezogen und &#x017F;ie gefragt hätte, wie viel &#x017F;ie bedürfe.</p><lb/>
          <p>Es lief inde&#x017F;&#x017F;en doch nicht ohne alle Bedenklichkeiten<lb/>
ab; denn als &#x017F;ie, über die &#x017F;o &#x017F;chnell verflo&#x017F;&#x017F;ene Stunde<lb/>
er&#x017F;chreckend, &#x017F;ich entfernen wollte und die Zimmerthüre<lb/>
öffnete, hörte man von der Treppe her ein Geräu&#x017F;ch von<lb/>
Weiber&#x017F;timmen. Es waren die übrigen Dien&#x017F;tboten des<lb/>
Hau&#x017F;es, die ihre Schlaf&#x017F;tellen auf&#x017F;uchten, und es &#x017F;chien<lb/>
allerdings nicht gerathen, daß Regine in die&#x017F;em Augen¬<lb/>
blicke aus der Thüre des fremden Herrn und Haus¬<lb/>
geno&#x017F;&#x017F;en trat. Sie drückte äng&#x017F;tlich die Thüre wieder zu<lb/>
und blickte dabei den Herrn Erwin Altenauer leicht<lb/>
erbla&#x017F;&#x017F;end an, ungefähr wie wenn es an einem Frühlings¬<lb/>
abende &#x017F;chwach wetterleuchtet, und Erwin half ihr wort¬<lb/>
los auf das Verhallen der Mädchen&#x017F;timmen lau&#x017F;chen. In<lb/>
die&#x017F;em Augenblicke &#x017F;ahen &#x017F;ie &#x017F;ich an und wußten, daß &#x017F;ie<lb/>
allein zu&#x017F;ammen &#x017F;eien und ein Geheimniß hatten, wenn<lb/>
auch ein un&#x017F;chuldiges. Als man nichts mehr hörte,<lb/>
öffnete Erwin &#x017F;achte die äußere Thüre und entließ die<lb/>
&#x017F;chöne große Jungfrau mit ihrem Lämpchen. Mit milden<lb/>
klugen Augen, ein wenig traurig wie immer, nickte &#x017F;ie<lb/>
ihm gute Nacht; etwas Neuartiges lag in ihrem Blicke,<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[85/0095] das ſei ja Alles nicht ſo betrüblich, wie es ausſehe, und werde ſich ſchon ein Ausweg finden, ſie ſolle nur ſo gut und brav bleiben u. ſ. w. Ihr düſter gewordenes An¬ geſicht hellte ſich auch zuſehends auf, ſo freundlich wirkte der ungewohnte Zuſpruch auf ihr einſames Gemüth, und gewiß zehnmal wohlthuender, als wenn er ſofort die Börſe gezogen und ſie gefragt hätte, wie viel ſie bedürfe. Es lief indeſſen doch nicht ohne alle Bedenklichkeiten ab; denn als ſie, über die ſo ſchnell verfloſſene Stunde erſchreckend, ſich entfernen wollte und die Zimmerthüre öffnete, hörte man von der Treppe her ein Geräuſch von Weiberſtimmen. Es waren die übrigen Dienſtboten des Hauſes, die ihre Schlafſtellen aufſuchten, und es ſchien allerdings nicht gerathen, daß Regine in dieſem Augen¬ blicke aus der Thüre des fremden Herrn und Haus¬ genoſſen trat. Sie drückte ängſtlich die Thüre wieder zu und blickte dabei den Herrn Erwin Altenauer leicht erblaſſend an, ungefähr wie wenn es an einem Frühlings¬ abende ſchwach wetterleuchtet, und Erwin half ihr wort¬ los auf das Verhallen der Mädchenſtimmen lauſchen. In dieſem Augenblicke ſahen ſie ſich an und wußten, daß ſie allein zuſammen ſeien und ein Geheimniß hatten, wenn auch ein unſchuldiges. Als man nichts mehr hörte, öffnete Erwin ſachte die äußere Thüre und entließ die ſchöne große Jungfrau mit ihrem Lämpchen. Mit milden klugen Augen, ein wenig traurig wie immer, nickte ſie ihm gute Nacht; etwas Neuartiges lag in ihrem Blicke,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/95
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/95>, abgerufen am 24.11.2024.