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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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auch dem Mädchen das Herz leicht machte. Ehe sie sich
dessen versah, stand sie an dem Stehpulte und schrieb
ihren Brief. Sie schrieb, ohne sich zu besinnen, in schönen
geraden Zeilen eine Seite herunter und faltete das Blatt,
ohne das Geschriebene nochmals anzusehen. Erwin's
Vergnügen, ihr von einem Sopha aus gemächlich zuzu¬
schauen, war daher schon vorbei. Er gab ihr einen Um¬
schlag und sie schrieb, wie er nun in der Nähe sah, mit
regelmäßigen sauberen Zügen die Adresse an ihre Mutter.

"Wollen Sie gleich siegeln?" fragte er, was sie dank¬
bar bejahte. Er bot ihr eine Achatschale hin, worin ein
Siegelring und mehrere Petschafte lagen mit fein ge¬
schnittenen Wappen, Namenszügen oder antiken Steinen,
und lud sie ein, sich ein Siegel zu wählen. Nach Jahren,
als sich das Zukünftige begeben hatte, erinnerte er sich
mit Wehmuth des zartsinnigen Zuges, wie das unwissende
junge Weib sich scheute, eines von den kostbaren fremden
Siegeln zu gebrauchen, und wünschte mit dem zinnernen
Jackenknopfe zu petschieren, den sie zu diesem Zwecke auf¬
bewahre. Es sei ein kleiner Stern darauf abgebildet.

"Damit kann ich auch dienen!" rief er und zog seinen
goldenen Bleistifthalter aus der Tasche; das obere Ende
desselben war wirklich mit einem runden Plättchen ver¬
sehen, das einen Stern zeigte und zum versiegeln eines
Briefes tauglich war. Das ließ sich Regine gefallen.
Erwin erwärmte das hochrothe Wachs und brachte es auf
den Brief; Regine drückte den Stern darauf, und als das

Keller, Sinngedicht. 6

auch dem Mädchen das Herz leicht machte. Ehe ſie ſich
deſſen verſah, ſtand ſie an dem Stehpulte und ſchrieb
ihren Brief. Sie ſchrieb, ohne ſich zu beſinnen, in ſchönen
geraden Zeilen eine Seite herunter und faltete das Blatt,
ohne das Geſchriebene nochmals anzuſehen. Erwin's
Vergnügen, ihr von einem Sopha aus gemächlich zuzu¬
ſchauen, war daher ſchon vorbei. Er gab ihr einen Um¬
ſchlag und ſie ſchrieb, wie er nun in der Nähe ſah, mit
regelmäßigen ſauberen Zügen die Adreſſe an ihre Mutter.

„Wollen Sie gleich ſiegeln?“ fragte er, was ſie dank¬
bar bejahte. Er bot ihr eine Achatſchale hin, worin ein
Siegelring und mehrere Petſchafte lagen mit fein ge¬
ſchnittenen Wappen, Namenszügen oder antiken Steinen,
und lud ſie ein, ſich ein Siegel zu wählen. Nach Jahren,
als ſich das Zukünftige begeben hatte, erinnerte er ſich
mit Wehmuth des zartſinnigen Zuges, wie das unwiſſende
junge Weib ſich ſcheute, eines von den koſtbaren fremden
Siegeln zu gebrauchen, und wünſchte mit dem zinnernen
Jackenknopfe zu petſchieren, den ſie zu dieſem Zwecke auf¬
bewahre. Es ſei ein kleiner Stern darauf abgebildet.

„Damit kann ich auch dienen!“ rief er und zog ſeinen
goldenen Bleiſtifthalter aus der Taſche; das obere Ende
deſſelben war wirklich mit einem runden Plättchen ver¬
ſehen, das einen Stern zeigte und zum verſiegeln eines
Briefes tauglich war. Das ließ ſich Regine gefallen.
Erwin erwärmte das hochrothe Wachs und brachte es auf
den Brief; Regine drückte den Stern darauf, und als das

Keller, Sinngedicht. 6
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[81/0091] auch dem Mädchen das Herz leicht machte. Ehe ſie ſich deſſen verſah, ſtand ſie an dem Stehpulte und ſchrieb ihren Brief. Sie ſchrieb, ohne ſich zu beſinnen, in ſchönen geraden Zeilen eine Seite herunter und faltete das Blatt, ohne das Geſchriebene nochmals anzuſehen. Erwin's Vergnügen, ihr von einem Sopha aus gemächlich zuzu¬ ſchauen, war daher ſchon vorbei. Er gab ihr einen Um¬ ſchlag und ſie ſchrieb, wie er nun in der Nähe ſah, mit regelmäßigen ſauberen Zügen die Adreſſe an ihre Mutter. „Wollen Sie gleich ſiegeln?“ fragte er, was ſie dank¬ bar bejahte. Er bot ihr eine Achatſchale hin, worin ein Siegelring und mehrere Petſchafte lagen mit fein ge¬ ſchnittenen Wappen, Namenszügen oder antiken Steinen, und lud ſie ein, ſich ein Siegel zu wählen. Nach Jahren, als ſich das Zukünftige begeben hatte, erinnerte er ſich mit Wehmuth des zartſinnigen Zuges, wie das unwiſſende junge Weib ſich ſcheute, eines von den koſtbaren fremden Siegeln zu gebrauchen, und wünſchte mit dem zinnernen Jackenknopfe zu petſchieren, den ſie zu dieſem Zwecke auf¬ bewahre. Es ſei ein kleiner Stern darauf abgebildet. „Damit kann ich auch dienen!“ rief er und zog ſeinen goldenen Bleiſtifthalter aus der Taſche; das obere Ende deſſelben war wirklich mit einem runden Plättchen ver¬ ſehen, das einen Stern zeigte und zum verſiegeln eines Briefes tauglich war. Das ließ ſich Regine gefallen. Erwin erwärmte das hochrothe Wachs und brachte es auf den Brief; Regine drückte den Stern darauf, und als das Keller, Sinngedicht. 6

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/91>, abgerufen am 25.11.2024.