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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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holen Sie sich Tinte oder nehmen Sie gleich die Flasche,
die Sie ja wieder bringen können. Haben Sie auch
einen Tisch zum Schreiben?"

"Leider nein, nur meine Kleiderkommode!"

"Ei, so schreiben Sie hier an diesem Tisch! Ich werde
Sie nicht stören und sie haben sich keineswegs zu scheuen!
Oder mögen Sie am Pult schreiben, so sind sie grade
noch groß genug dazu."

Er zündete gleichzeitig eine Lampe an, die helles Licht
verbreitete und wendete sich dann wieder zu der schweigen¬
den Person, deren Gesicht, wie am Tage schon einmal,
die leichte Röthe überflog, mit den Worten: "Sagen Sie,
Regine, der schöne Dragoner, der heute bei Ihnen war,
ist natürlich Ihr Schatz? Da ist Ihnen wahrhaftig Glück
zu wünschen!" Welche Worte er mit veränderter, etwas
unsicherer Stimme hervorbrachte, wie wenn er in Herzens¬
angelegenheiten vor einer großen Weltdame stände.

Das Roth in ihrem Gesichte wurde tiefer und spiegelte
sich in dem seinigen, das trotz seiner acht oder neunund¬
zwanzig Jahre ebenfalls röthlich anlief. Zugleich aber
blitzten ihre Augen nicht ohne einige Schalkheit der
harmlosesten Art zu ihm hinüber, als sie antwortete:
"Das war ein Bruder von mir!" Ob sie im Uebrigen
einen Schatz besitze oder nicht, vergaß sie zu sagen. Auch
verlangte Erwin diesmal nichts Weiteres zu erfahren,
sondern schien mit dem Bruder so vollkommen zufrieden,
daß seine anbrechende Heiterkeit unverkennbar war und

holen Sie ſich Tinte oder nehmen Sie gleich die Flaſche,
die Sie ja wieder bringen können. Haben Sie auch
einen Tiſch zum Schreiben?“

„Leider nein, nur meine Kleiderkommode!“

„Ei, ſo ſchreiben Sie hier an dieſem Tiſch! Ich werde
Sie nicht ſtören und ſie haben ſich keineswegs zu ſcheuen!
Oder mögen Sie am Pult ſchreiben, ſo ſind ſie grade
noch groß genug dazu.“

Er zündete gleichzeitig eine Lampe an, die helles Licht
verbreitete und wendete ſich dann wieder zu der ſchweigen¬
den Perſon, deren Geſicht, wie am Tage ſchon einmal,
die leichte Röthe überflog, mit den Worten: „Sagen Sie,
Regine, der ſchöne Dragoner, der heute bei Ihnen war,
iſt natürlich Ihr Schatz? Da iſt Ihnen wahrhaftig Glück
zu wünſchen!“ Welche Worte er mit veränderter, etwas
unſicherer Stimme hervorbrachte, wie wenn er in Herzens¬
angelegenheiten vor einer großen Weltdame ſtände.

Das Roth in ihrem Geſichte wurde tiefer und ſpiegelte
ſich in dem ſeinigen, das trotz ſeiner acht oder neunund¬
zwanzig Jahre ebenfalls röthlich anlief. Zugleich aber
blitzten ihre Augen nicht ohne einige Schalkheit der
harmloſeſten Art zu ihm hinüber, als ſie antwortete:
„Das war ein Bruder von mir!“ Ob ſie im Uebrigen
einen Schatz beſitze oder nicht, vergaß ſie zu ſagen. Auch
verlangte Erwin diesmal nichts Weiteres zu erfahren,
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[80/0090] holen Sie ſich Tinte oder nehmen Sie gleich die Flaſche, die Sie ja wieder bringen können. Haben Sie auch einen Tiſch zum Schreiben?“ „Leider nein, nur meine Kleiderkommode!“ „Ei, ſo ſchreiben Sie hier an dieſem Tiſch! Ich werde Sie nicht ſtören und ſie haben ſich keineswegs zu ſcheuen! Oder mögen Sie am Pult ſchreiben, ſo ſind ſie grade noch groß genug dazu.“ Er zündete gleichzeitig eine Lampe an, die helles Licht verbreitete und wendete ſich dann wieder zu der ſchweigen¬ den Perſon, deren Geſicht, wie am Tage ſchon einmal, die leichte Röthe überflog, mit den Worten: „Sagen Sie, Regine, der ſchöne Dragoner, der heute bei Ihnen war, iſt natürlich Ihr Schatz? Da iſt Ihnen wahrhaftig Glück zu wünſchen!“ Welche Worte er mit veränderter, etwas unſicherer Stimme hervorbrachte, wie wenn er in Herzens¬ angelegenheiten vor einer großen Weltdame ſtände. Das Roth in ihrem Geſichte wurde tiefer und ſpiegelte ſich in dem ſeinigen, das trotz ſeiner acht oder neunund¬ zwanzig Jahre ebenfalls röthlich anlief. Zugleich aber blitzten ihre Augen nicht ohne einige Schalkheit der harmloſeſten Art zu ihm hinüber, als ſie antwortete: „Das war ein Bruder von mir!“ Ob ſie im Uebrigen einen Schatz beſitze oder nicht, vergaß ſie zu ſagen. Auch verlangte Erwin diesmal nichts Weiteres zu erfahren, ſondern ſchien mit dem Bruder ſo vollkommen zufrieden, daß ſeine anbrechende Heiterkeit unverkennbar war und

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/90>, abgerufen am 25.11.2024.