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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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Stufen der unteren Treppe kniete und scheuerte und er
eben herunter stieg, richtete sie sich auf und lehnte sich an
das Geländer, um ihn vorbei zu lassen; er konnte sich
nicht versagen, guten Tag zu wünschen und eine kleine
flüchtige Entschuldigung vorzubringen, ohne sich aufzu¬
halten. Aber in diesem Augenblicke schlug sie ihr Auge
so groß und schön auf und ein so mildes halbes Lächeln
schwebte wie verwundert um die ernsten Lippen, daß das
Bild der armen Magd nicht mehr aus seinen Sinnen ver¬
schwand, so zwar, wie wenn Einer etwas Gutes weiß, zu
dem seine Gedanken jedesmal ruhig zurückkehren, sobald
sie nicht zerstreut oder beschäftigt sind. Sonst begab oder
änderte sich weiter nichts, als daß er sie gelegentlich nach
ihrem Namen frug, der auf Regine lautete.

Eines schönen Sonntags, den er im Freien zugebracht,
kehrte er spät in der Nacht nach seiner Wohnung heim,
mit langsamen Schritten und wohlgemuth die Sommerluft
genießend. Da und dort schwärmten singende Studenten
durch die Gassen, in welche der helle Vollmond schien;
vor dem Hause aber, das er endlich erreichte, befand sich
ein ganzer Trupp dieses muthwilligen Volkes und umringte
eine einsame Frauensperson, die sich an die Hausthüre
drückte. Ich kann den Auftritt beschreiben, denn ich stand
selber dabei. Es war Regine, die auf der runden Frei¬
treppe, drei bis vier Stufen hoch, mit dem Rücken an
die Thüre gelehnt, dastand und lautlos auf die sehr an¬
geheiterte Schaar herabschaute. Sie hatte von ihrer Herr¬

Stufen der unteren Treppe kniete und ſcheuerte und er
eben herunter ſtieg, richtete ſie ſich auf und lehnte ſich an
das Geländer, um ihn vorbei zu laſſen; er konnte ſich
nicht verſagen, guten Tag zu wünſchen und eine kleine
flüchtige Entſchuldigung vorzubringen, ohne ſich aufzu¬
halten. Aber in dieſem Augenblicke ſchlug ſie ihr Auge
ſo groß und ſchön auf und ein ſo mildes halbes Lächeln
ſchwebte wie verwundert um die ernſten Lippen, daß das
Bild der armen Magd nicht mehr aus ſeinen Sinnen ver¬
ſchwand, ſo zwar, wie wenn Einer etwas Gutes weiß, zu
dem ſeine Gedanken jedesmal ruhig zurückkehren, ſobald
ſie nicht zerſtreut oder beſchäftigt ſind. Sonſt begab oder
änderte ſich weiter nichts, als daß er ſie gelegentlich nach
ihrem Namen frug, der auf Regine lautete.

Eines ſchönen Sonntags, den er im Freien zugebracht,
kehrte er ſpät in der Nacht nach ſeiner Wohnung heim,
mit langſamen Schritten und wohlgemuth die Sommerluft
genießend. Da und dort ſchwärmten ſingende Studenten
durch die Gaſſen, in welche der helle Vollmond ſchien;
vor dem Hauſe aber, das er endlich erreichte, befand ſich
ein ganzer Trupp dieſes muthwilligen Volkes und umringte
eine einſame Frauensperſon, die ſich an die Hausthüre
drückte. Ich kann den Auftritt beſchreiben, denn ich ſtand
ſelber dabei. Es war Regine, die auf der runden Frei¬
treppe, drei bis vier Stufen hoch, mit dem Rücken an
die Thüre gelehnt, daſtand und lautlos auf die ſehr an¬
geheiterte Schaar herabſchaute. Sie hatte von ihrer Herr¬

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[75/0085] Stufen der unteren Treppe kniete und ſcheuerte und er eben herunter ſtieg, richtete ſie ſich auf und lehnte ſich an das Geländer, um ihn vorbei zu laſſen; er konnte ſich nicht verſagen, guten Tag zu wünſchen und eine kleine flüchtige Entſchuldigung vorzubringen, ohne ſich aufzu¬ halten. Aber in dieſem Augenblicke ſchlug ſie ihr Auge ſo groß und ſchön auf und ein ſo mildes halbes Lächeln ſchwebte wie verwundert um die ernſten Lippen, daß das Bild der armen Magd nicht mehr aus ſeinen Sinnen ver¬ ſchwand, ſo zwar, wie wenn Einer etwas Gutes weiß, zu dem ſeine Gedanken jedesmal ruhig zurückkehren, ſobald ſie nicht zerſtreut oder beſchäftigt ſind. Sonſt begab oder änderte ſich weiter nichts, als daß er ſie gelegentlich nach ihrem Namen frug, der auf Regine lautete. Eines ſchönen Sonntags, den er im Freien zugebracht, kehrte er ſpät in der Nacht nach ſeiner Wohnung heim, mit langſamen Schritten und wohlgemuth die Sommerluft genießend. Da und dort ſchwärmten ſingende Studenten durch die Gaſſen, in welche der helle Vollmond ſchien; vor dem Hauſe aber, das er endlich erreichte, befand ſich ein ganzer Trupp dieſes muthwilligen Volkes und umringte eine einſame Frauensperſon, die ſich an die Hausthüre drückte. Ich kann den Auftritt beſchreiben, denn ich ſtand ſelber dabei. Es war Regine, die auf der runden Frei¬ treppe, drei bis vier Stufen hoch, mit dem Rücken an die Thüre gelehnt, daſtand und lautlos auf die ſehr an¬ geheiterte Schaar herabſchaute. Sie hatte von ihrer Herr¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/85>, abgerufen am 25.11.2024.