Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

Bild:
<< vorherige Seite

"Was mir beschieden ist, weiß ich nicht; ich geharre
demüthig meines Schicksals. Doch habe ich den Fall
erlebt, daß ein angesehener und sehr gebildeter junger
Mann wirklich eine Magd vom Herde weggenommen und
so lange glücklich mit ihr gelebt hat, bis sie richtig zur
ebenbürtigen Weltdame geworden, worauf erst das Unheil
eintraf."

"Der würde ja gerade gegen Ihre orientalischen An¬
schauungen zeugen!"

"Es scheint allerdings so, ist aber doch nicht der Fall,
abgesehen von dem abscheulichen Titel, mit dem Sie meine
harmlose Philosophie bezeichnen!"

"Und ist Ihre Geschichte ein Geheimniß, oder darf
man dieselbe vernehmen?"

"So gut ich es vermag, will ich sie gern aus der
Erinnerung zusammenlesen mit allen Umständen, die mir
noch gegenwärtig sind, wobei ich Sie bitten muß, das
Ergänzungsvermögen, das den Begebenheiten selbst inne¬
wohnt, wenn sie wiedererzählt werden, mit gläubiger
Nachsicht zu beurtheilen!"

Da die zwei spinnenden Mädchen die Räder anhielten
und ihre vier Aeuglein neugierig auf den Erzähler rich¬
teten, sagte Lucia zu ihnen: "Fahrt nur fort zu spinnen,
Ihr Mädchen, damit der Herr, durch das Schnurren ver¬
lockt und unterstützt, den Faden seiner Erzählung um so
weniger verliert! Ihr könnt Euch die Lehre, die sich

5*

„Was mir beſchieden iſt, weiß ich nicht; ich geharre
demüthig meines Schickſals. Doch habe ich den Fall
erlebt, daß ein angeſehener und ſehr gebildeter junger
Mann wirklich eine Magd vom Herde weggenommen und
ſo lange glücklich mit ihr gelebt hat, bis ſie richtig zur
ebenbürtigen Weltdame geworden, worauf erſt das Unheil
eintraf.“

„Der würde ja gerade gegen Ihre orientaliſchen An¬
ſchauungen zeugen!“

„Es ſcheint allerdings ſo, iſt aber doch nicht der Fall,
abgeſehen von dem abſcheulichen Titel, mit dem Sie meine
harmloſe Philoſophie bezeichnen!“

„Und iſt Ihre Geſchichte ein Geheimniß, oder darf
man dieſelbe vernehmen?“

„So gut ich es vermag, will ich ſie gern aus der
Erinnerung zuſammenleſen mit allen Umſtänden, die mir
noch gegenwärtig ſind, wobei ich Sie bitten muß, das
Ergänzungsvermögen, das den Begebenheiten ſelbſt inne¬
wohnt, wenn ſie wiedererzählt werden, mit gläubiger
Nachſicht zu beurtheilen!“

Da die zwei ſpinnenden Mädchen die Räder anhielten
und ihre vier Aeuglein neugierig auf den Erzähler rich¬
teten, ſagte Lucia zu ihnen: „Fahrt nur fort zu ſpinnen,
Ihr Mädchen, damit der Herr, durch das Schnurren ver¬
lockt und unterſtützt, den Faden ſeiner Erzählung um ſo
weniger verliert! Ihr könnt Euch die Lehre, die ſich

5*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0077" n="67"/>
          <p>&#x201E;Was mir be&#x017F;chieden i&#x017F;t, weiß ich nicht; ich geharre<lb/>
demüthig meines Schick&#x017F;als. Doch habe ich den Fall<lb/>
erlebt, daß ein ange&#x017F;ehener und &#x017F;ehr gebildeter junger<lb/>
Mann wirklich eine Magd vom Herde weggenommen und<lb/>
&#x017F;o lange glücklich mit ihr gelebt hat, bis &#x017F;ie richtig zur<lb/>
ebenbürtigen Weltdame geworden, worauf er&#x017F;t das Unheil<lb/>
eintraf.&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Der würde ja gerade gegen Ihre orientali&#x017F;chen An¬<lb/>
&#x017F;chauungen zeugen!&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Es &#x017F;cheint allerdings &#x017F;o, i&#x017F;t aber doch nicht der Fall,<lb/>
abge&#x017F;ehen von dem ab&#x017F;cheulichen Titel, mit dem Sie meine<lb/>
harmlo&#x017F;e Philo&#x017F;ophie bezeichnen!&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Und i&#x017F;t Ihre Ge&#x017F;chichte ein Geheimniß, oder darf<lb/>
man die&#x017F;elbe vernehmen?&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;So gut ich es vermag, will ich &#x017F;ie gern aus der<lb/>
Erinnerung zu&#x017F;ammenle&#x017F;en mit allen Um&#x017F;tänden, die mir<lb/>
noch gegenwärtig &#x017F;ind, wobei ich Sie bitten muß, das<lb/>
Ergänzungsvermögen, das den Begebenheiten &#x017F;elb&#x017F;t inne¬<lb/>
wohnt, wenn &#x017F;ie wiedererzählt werden, mit gläubiger<lb/>
Nach&#x017F;icht zu beurtheilen!&#x201C;</p><lb/>
          <p>Da die zwei &#x017F;pinnenden Mädchen die Räder anhielten<lb/>
und ihre vier Aeuglein neugierig auf den Erzähler rich¬<lb/>
teten, &#x017F;agte Lucia zu ihnen: &#x201E;Fahrt nur fort zu &#x017F;pinnen,<lb/>
Ihr Mädchen, damit der Herr, durch das Schnurren ver¬<lb/>
lockt und unter&#x017F;tützt, den Faden &#x017F;einer Erzählung um &#x017F;o<lb/>
weniger verliert! Ihr könnt Euch die Lehre, die &#x017F;ich<lb/>
<fw type="sig" place="bottom">5*<lb/></fw>
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[67/0077] „Was mir beſchieden iſt, weiß ich nicht; ich geharre demüthig meines Schickſals. Doch habe ich den Fall erlebt, daß ein angeſehener und ſehr gebildeter junger Mann wirklich eine Magd vom Herde weggenommen und ſo lange glücklich mit ihr gelebt hat, bis ſie richtig zur ebenbürtigen Weltdame geworden, worauf erſt das Unheil eintraf.“ „Der würde ja gerade gegen Ihre orientaliſchen An¬ ſchauungen zeugen!“ „Es ſcheint allerdings ſo, iſt aber doch nicht der Fall, abgeſehen von dem abſcheulichen Titel, mit dem Sie meine harmloſe Philoſophie bezeichnen!“ „Und iſt Ihre Geſchichte ein Geheimniß, oder darf man dieſelbe vernehmen?“ „So gut ich es vermag, will ich ſie gern aus der Erinnerung zuſammenleſen mit allen Umſtänden, die mir noch gegenwärtig ſind, wobei ich Sie bitten muß, das Ergänzungsvermögen, das den Begebenheiten ſelbſt inne¬ wohnt, wenn ſie wiedererzählt werden, mit gläubiger Nachſicht zu beurtheilen!“ Da die zwei ſpinnenden Mädchen die Räder anhielten und ihre vier Aeuglein neugierig auf den Erzähler rich¬ teten, ſagte Lucia zu ihnen: „Fahrt nur fort zu ſpinnen, Ihr Mädchen, damit der Herr, durch das Schnurren ver¬ lockt und unterſtützt, den Faden ſeiner Erzählung um ſo weniger verliert! Ihr könnt Euch die Lehre, die ſich 5*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/77
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/77>, abgerufen am 26.11.2024.