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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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nach ein Bild irdischen Glückes ab; denn so jung, so schön
und so hübsch gekleidet, wie beide waren, als Brautleute,
denen ein langes sorgloses Leben lachte, der lieblichsten
Muße genießend in einem stillen Empfangssaale, den sie
zur Ruhe gewählt, schien ihnen nichts zu fehlen, um sich
im Paradiese glauben zu können. Sie waren über ihrem
Kosen sänftlich eingeschlafen und erwachten jetzt wieder,
gemächlich Eines nach dem Andern; der Bräutigam gähnte
ein Weniges, mit Maß, und hielt die Hand vor; die
Braut aber, als sie ihn gähnen sah, sperrte, unwider¬
stehlich gereizt, den Mund auf soweit sie konnte und wie
sie es auf dem Lande zu thun pflegte, wenn keine Fremden
da waren, und begleitete diese Mundaufsperrung mit jenem
trost-, hoffnungs- und rücksichtslosen Weltuntergangsseufzer
oder Gestöhne, womit manche Leute, in der behaglichsten
Meinung von der Welt, die gesundesten Nerven zu er¬
schüttern und die frohsten Gemüther einzuschüchtern ver¬
stehen.

Sie müssen sich nicht wundern, unterbrach sich Lucie,
daß ich diese Einzelheiten so genau kenne: ich habe sie
sattsam von beiden Seiten erzählen hören, und es scheint
außerdem, daß jenes unglückliche Gähnduett gleich einem
unwillkürlichen, verhängnißvollen Bekenntnisse die Wen¬
dung herbeiführte. Wenigstens verweilten Beide wiederholt
bei diesem merkwürdigen Punkte. Der Bräutigam wurde
auf einmal ganz verdrießlich und rief: "O Gott im Himmel!
Ist das nun alles, was Du zu erzählen weißt?"

nach ein Bild irdiſchen Glückes ab; denn ſo jung, ſo ſchön
und ſo hübſch gekleidet, wie beide waren, als Brautleute,
denen ein langes ſorgloſes Leben lachte, der lieblichſten
Muße genießend in einem ſtillen Empfangsſaale, den ſie
zur Ruhe gewählt, ſchien ihnen nichts zu fehlen, um ſich
im Paradieſe glauben zu können. Sie waren über ihrem
Koſen ſänftlich eingeſchlafen und erwachten jetzt wieder,
gemächlich Eines nach dem Andern; der Bräutigam gähnte
ein Weniges, mit Maß, und hielt die Hand vor; die
Braut aber, als ſie ihn gähnen ſah, ſperrte, unwider¬
ſtehlich gereizt, den Mund auf ſoweit ſie konnte und wie
ſie es auf dem Lande zu thun pflegte, wenn keine Fremden
da waren, und begleitete dieſe Mundaufſperrung mit jenem
troſt-, hoffnungs- und rückſichtsloſen Weltuntergangsſeufzer
oder Geſtöhne, womit manche Leute, in der behaglichſten
Meinung von der Welt, die geſundeſten Nerven zu er¬
ſchüttern und die frohſten Gemüther einzuſchüchtern ver¬
ſtehen.

Sie müſſen ſich nicht wundern, unterbrach ſich Lucie,
daß ich dieſe Einzelheiten ſo genau kenne: ich habe ſie
ſattſam von beiden Seiten erzählen hören, und es ſcheint
außerdem, daß jenes unglückliche Gähnduett gleich einem
unwillkürlichen, verhängnißvollen Bekenntniſſe die Wen¬
dung herbeiführte. Wenigſtens verweilten Beide wiederholt
bei dieſem merkwürdigen Punkte. Der Bräutigam wurde
auf einmal ganz verdrießlich und rief: „O Gott im Himmel!
Iſt das nun alles, was Du zu erzählen weißt?“

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[58/0068] nach ein Bild irdiſchen Glückes ab; denn ſo jung, ſo ſchön und ſo hübſch gekleidet, wie beide waren, als Brautleute, denen ein langes ſorgloſes Leben lachte, der lieblichſten Muße genießend in einem ſtillen Empfangsſaale, den ſie zur Ruhe gewählt, ſchien ihnen nichts zu fehlen, um ſich im Paradieſe glauben zu können. Sie waren über ihrem Koſen ſänftlich eingeſchlafen und erwachten jetzt wieder, gemächlich Eines nach dem Andern; der Bräutigam gähnte ein Weniges, mit Maß, und hielt die Hand vor; die Braut aber, als ſie ihn gähnen ſah, ſperrte, unwider¬ ſtehlich gereizt, den Mund auf ſoweit ſie konnte und wie ſie es auf dem Lande zu thun pflegte, wenn keine Fremden da waren, und begleitete dieſe Mundaufſperrung mit jenem troſt-, hoffnungs- und rückſichtsloſen Weltuntergangsſeufzer oder Geſtöhne, womit manche Leute, in der behaglichſten Meinung von der Welt, die geſundeſten Nerven zu er¬ ſchüttern und die frohſten Gemüther einzuſchüchtern ver¬ ſtehen. Sie müſſen ſich nicht wundern, unterbrach ſich Lucie, daß ich dieſe Einzelheiten ſo genau kenne: ich habe ſie ſattſam von beiden Seiten erzählen hören, und es ſcheint außerdem, daß jenes unglückliche Gähnduett gleich einem unwillkürlichen, verhängnißvollen Bekenntniſſe die Wen¬ dung herbeiführte. Wenigſtens verweilten Beide wiederholt bei dieſem merkwürdigen Punkte. Der Bräutigam wurde auf einmal ganz verdrießlich und rief: „O Gott im Himmel! Iſt das nun alles, was Du zu erzählen weißt?“

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/68>, abgerufen am 26.11.2024.