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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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Sie etwa anderwärts vorzutragen in die artige Laune
gerathen, wie Sie hier gethan haben!"

"Seien Sie in dieser Hinsicht ganz ruhig", antwortete
Reinhart; "ich gönne mir selber kaum, was Sie mir so
gütig anvertrauten. Doch das Gleichniß mit dem Impfen
der Kinder kann ich Ihnen nicht gelten lassen. Was Sie
erlebt haben, ist wohl zu unterscheiden von der ungehörigen
Liebesucht verderbter Kinder und widerfährt nur wenigen
bevorzugten Wesen, deren edle angeborene Großmuth des
Herzens der Zeit ungeduldig, unschuldig und unbewußt
vorauseilt. Der naive Kinderglauben an die leichtfertigen
Scherzworte des Herrn Cardinals, an welchem Sie so
treulich festgehalten haben, gehört zu dieser Großmuth,
wie ein Taubenflügel zum andern, und mit solchen Flügeln
fliegen die Engel unter den Menschen. Beschämt ermesse
ich an diesem Beispiele des Guten, wie theilnahmslos
mein Leben verlaufen ist, wie inhaltslos, und auf
wie leichtsinnige Weise ich sogar vor Ihr Angesicht ge¬
rathen bin!"

"Sie werden endlich ja wahrhaft artig gegen Unsereines",
sagte Lucie; "ich danke Ihnen für das gnädige Urtheil,"

Sie athmete leicht auf und fuhr fort: "Sehen Sie,
nun bin ich erst ganz von der verwünschten Heimlichkeit
befreit. Wie schwierig ist es, einen Beichtvater zu finden,
wie man ihn braucht! Aber wollten Sie nicht lesen?"

"Jetzt nicht mehr", meinte Reinhart; "wer möchte noch
lesen! Lieber möcht' ich hinaus in's Freie, den Tag ent¬

Sie etwa anderwärts vorzutragen in die artige Laune
gerathen, wie Sie hier gethan haben!“

„Seien Sie in dieſer Hinſicht ganz ruhig“, antwortete
Reinhart; „ich gönne mir ſelber kaum, was Sie mir ſo
gütig anvertrauten. Doch das Gleichniß mit dem Impfen
der Kinder kann ich Ihnen nicht gelten laſſen. Was Sie
erlebt haben, iſt wohl zu unterſcheiden von der ungehörigen
Liebeſucht verderbter Kinder und widerfährt nur wenigen
bevorzugten Weſen, deren edle angeborene Großmuth des
Herzens der Zeit ungeduldig, unſchuldig und unbewußt
vorauseilt. Der naive Kinderglauben an die leichtfertigen
Scherzworte des Herrn Cardinals, an welchem Sie ſo
treulich feſtgehalten haben, gehört zu dieſer Großmuth,
wie ein Taubenflügel zum andern, und mit ſolchen Flügeln
fliegen die Engel unter den Menſchen. Beſchämt ermeſſe
ich an dieſem Beiſpiele des Guten, wie theilnahmslos
mein Leben verlaufen iſt, wie inhaltslos, und auf
wie leichtſinnige Weiſe ich ſogar vor Ihr Angeſicht ge¬
rathen bin!“

„Sie werden endlich ja wahrhaft artig gegen Unſereines“,
ſagte Lucie; „ich danke Ihnen für das gnädige Urtheil,“

Sie athmete leicht auf und fuhr fort: „Sehen Sie,
nun bin ich erſt ganz von der verwünſchten Heimlichkeit
befreit. Wie ſchwierig iſt es, einen Beichtvater zu finden,
wie man ihn braucht! Aber wollten Sie nicht leſen?“

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[406/0416] Sie etwa anderwärts vorzutragen in die artige Laune gerathen, wie Sie hier gethan haben!“ „Seien Sie in dieſer Hinſicht ganz ruhig“, antwortete Reinhart; „ich gönne mir ſelber kaum, was Sie mir ſo gütig anvertrauten. Doch das Gleichniß mit dem Impfen der Kinder kann ich Ihnen nicht gelten laſſen. Was Sie erlebt haben, iſt wohl zu unterſcheiden von der ungehörigen Liebeſucht verderbter Kinder und widerfährt nur wenigen bevorzugten Weſen, deren edle angeborene Großmuth des Herzens der Zeit ungeduldig, unſchuldig und unbewußt vorauseilt. Der naive Kinderglauben an die leichtfertigen Scherzworte des Herrn Cardinals, an welchem Sie ſo treulich feſtgehalten haben, gehört zu dieſer Großmuth, wie ein Taubenflügel zum andern, und mit ſolchen Flügeln fliegen die Engel unter den Menſchen. Beſchämt ermeſſe ich an dieſem Beiſpiele des Guten, wie theilnahmslos mein Leben verlaufen iſt, wie inhaltslos, und auf wie leichtſinnige Weiſe ich ſogar vor Ihr Angeſicht ge¬ rathen bin!“ „Sie werden endlich ja wahrhaft artig gegen Unſereines“, ſagte Lucie; „ich danke Ihnen für das gnädige Urtheil,“ Sie athmete leicht auf und fuhr fort: „Sehen Sie, nun bin ich erſt ganz von der verwünſchten Heimlichkeit befreit. Wie ſchwierig iſt es, einen Beichtvater zu finden, wie man ihn braucht! Aber wollten Sie nicht leſen?“ „Jetzt nicht mehr“, meinte Reinhart; „wer möchte noch leſen! Lieber möcht' ich hinaus in's Freie, den Tag ent¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 406. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/416>, abgerufen am 23.11.2024.