Sie etwa anderwärts vorzutragen in die artige Laune gerathen, wie Sie hier gethan haben!"
"Seien Sie in dieser Hinsicht ganz ruhig", antwortete Reinhart; "ich gönne mir selber kaum, was Sie mir so gütig anvertrauten. Doch das Gleichniß mit dem Impfen der Kinder kann ich Ihnen nicht gelten lassen. Was Sie erlebt haben, ist wohl zu unterscheiden von der ungehörigen Liebesucht verderbter Kinder und widerfährt nur wenigen bevorzugten Wesen, deren edle angeborene Großmuth des Herzens der Zeit ungeduldig, unschuldig und unbewußt vorauseilt. Der naive Kinderglauben an die leichtfertigen Scherzworte des Herrn Cardinals, an welchem Sie so treulich festgehalten haben, gehört zu dieser Großmuth, wie ein Taubenflügel zum andern, und mit solchen Flügeln fliegen die Engel unter den Menschen. Beschämt ermesse ich an diesem Beispiele des Guten, wie theilnahmslos mein Leben verlaufen ist, wie inhaltslos, und auf wie leichtsinnige Weise ich sogar vor Ihr Angesicht ge¬ rathen bin!"
"Sie werden endlich ja wahrhaft artig gegen Unsereines", sagte Lucie; "ich danke Ihnen für das gnädige Urtheil,"
Sie athmete leicht auf und fuhr fort: "Sehen Sie, nun bin ich erst ganz von der verwünschten Heimlichkeit befreit. Wie schwierig ist es, einen Beichtvater zu finden, wie man ihn braucht! Aber wollten Sie nicht lesen?"
"Jetzt nicht mehr", meinte Reinhart; "wer möchte noch lesen! Lieber möcht' ich hinaus in's Freie, den Tag ent¬
Sie etwa anderwärts vorzutragen in die artige Laune gerathen, wie Sie hier gethan haben!“
„Seien Sie in dieſer Hinſicht ganz ruhig“, antwortete Reinhart; „ich gönne mir ſelber kaum, was Sie mir ſo gütig anvertrauten. Doch das Gleichniß mit dem Impfen der Kinder kann ich Ihnen nicht gelten laſſen. Was Sie erlebt haben, iſt wohl zu unterſcheiden von der ungehörigen Liebeſucht verderbter Kinder und widerfährt nur wenigen bevorzugten Weſen, deren edle angeborene Großmuth des Herzens der Zeit ungeduldig, unſchuldig und unbewußt vorauseilt. Der naive Kinderglauben an die leichtfertigen Scherzworte des Herrn Cardinals, an welchem Sie ſo treulich feſtgehalten haben, gehört zu dieſer Großmuth, wie ein Taubenflügel zum andern, und mit ſolchen Flügeln fliegen die Engel unter den Menſchen. Beſchämt ermeſſe ich an dieſem Beiſpiele des Guten, wie theilnahmslos mein Leben verlaufen iſt, wie inhaltslos, und auf wie leichtſinnige Weiſe ich ſogar vor Ihr Angeſicht ge¬ rathen bin!“
„Sie werden endlich ja wahrhaft artig gegen Unſereines“, ſagte Lucie; „ich danke Ihnen für das gnädige Urtheil,“
Sie athmete leicht auf und fuhr fort: „Sehen Sie, nun bin ich erſt ganz von der verwünſchten Heimlichkeit befreit. Wie ſchwierig iſt es, einen Beichtvater zu finden, wie man ihn braucht! Aber wollten Sie nicht leſen?“
„Jetzt nicht mehr“, meinte Reinhart; „wer möchte noch leſen! Lieber möcht' ich hinaus in's Freie, den Tag ent¬
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0416"n="406"/>
Sie etwa anderwärts vorzutragen in die artige Laune<lb/>
gerathen, wie Sie hier gethan haben!“</p><lb/><p>„Seien Sie in dieſer Hinſicht ganz ruhig“, antwortete<lb/>
Reinhart; „ich gönne mir ſelber kaum, was Sie mir ſo<lb/>
gütig anvertrauten. Doch das Gleichniß mit dem Impfen<lb/>
der Kinder kann ich Ihnen nicht gelten laſſen. Was Sie<lb/>
erlebt haben, iſt wohl zu unterſcheiden von der ungehörigen<lb/>
Liebeſucht verderbter Kinder und widerfährt nur wenigen<lb/>
bevorzugten Weſen, deren edle angeborene Großmuth des<lb/>
Herzens der Zeit ungeduldig, unſchuldig und unbewußt<lb/>
vorauseilt. Der naive Kinderglauben an die leichtfertigen<lb/>
Scherzworte des Herrn Cardinals, an welchem Sie ſo<lb/>
treulich feſtgehalten haben, gehört zu dieſer Großmuth,<lb/>
wie ein Taubenflügel zum andern, und mit ſolchen Flügeln<lb/>
fliegen die Engel unter den Menſchen. Beſchämt ermeſſe<lb/>
ich an dieſem Beiſpiele des Guten, wie theilnahmslos<lb/>
mein Leben verlaufen iſt, wie inhaltslos, und auf<lb/>
wie leichtſinnige Weiſe ich ſogar vor Ihr Angeſicht ge¬<lb/>
rathen bin!“</p><lb/><p>„Sie werden endlich ja wahrhaft artig gegen Unſereines“,<lb/>ſagte Lucie; „ich danke Ihnen für das gnädige Urtheil,“</p><lb/><p>Sie athmete leicht auf und fuhr fort: „Sehen Sie,<lb/>
nun bin ich erſt ganz von der verwünſchten Heimlichkeit<lb/>
befreit. Wie ſchwierig iſt es, einen Beichtvater zu finden,<lb/>
wie man ihn braucht! Aber wollten Sie nicht leſen?“</p><lb/><p>„Jetzt nicht mehr“, meinte Reinhart; „wer möchte noch<lb/>
leſen! Lieber möcht' ich hinaus in's Freie, den Tag ent¬<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[406/0416]
Sie etwa anderwärts vorzutragen in die artige Laune
gerathen, wie Sie hier gethan haben!“
„Seien Sie in dieſer Hinſicht ganz ruhig“, antwortete
Reinhart; „ich gönne mir ſelber kaum, was Sie mir ſo
gütig anvertrauten. Doch das Gleichniß mit dem Impfen
der Kinder kann ich Ihnen nicht gelten laſſen. Was Sie
erlebt haben, iſt wohl zu unterſcheiden von der ungehörigen
Liebeſucht verderbter Kinder und widerfährt nur wenigen
bevorzugten Weſen, deren edle angeborene Großmuth des
Herzens der Zeit ungeduldig, unſchuldig und unbewußt
vorauseilt. Der naive Kinderglauben an die leichtfertigen
Scherzworte des Herrn Cardinals, an welchem Sie ſo
treulich feſtgehalten haben, gehört zu dieſer Großmuth,
wie ein Taubenflügel zum andern, und mit ſolchen Flügeln
fliegen die Engel unter den Menſchen. Beſchämt ermeſſe
ich an dieſem Beiſpiele des Guten, wie theilnahmslos
mein Leben verlaufen iſt, wie inhaltslos, und auf
wie leichtſinnige Weiſe ich ſogar vor Ihr Angeſicht ge¬
rathen bin!“
„Sie werden endlich ja wahrhaft artig gegen Unſereines“,
ſagte Lucie; „ich danke Ihnen für das gnädige Urtheil,“
Sie athmete leicht auf und fuhr fort: „Sehen Sie,
nun bin ich erſt ganz von der verwünſchten Heimlichkeit
befreit. Wie ſchwierig iſt es, einen Beichtvater zu finden,
wie man ihn braucht! Aber wollten Sie nicht leſen?“
„Jetzt nicht mehr“, meinte Reinhart; „wer möchte noch
leſen! Lieber möcht' ich hinaus in's Freie, den Tag ent¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 406. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/416>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.