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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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welcher ich Briefe wechselte, erwähnten seiner auch nur
ein einziges Mal. Allein ich glaubte fest, daß er eines
Tages, wenn die Zeit da sei, kommen und mich und mein
Geheimniß befreien werde. Je weiter seine körperliche
Gegenwart in meiner Erinnerung zurücktrat, desto heller
glänzte er, einem Sterne gleich, mir in der Seele. Das
zweite Jahr ging seinem Ende entgegen; ich war stark
gewachsen, und mit meinem Geheimniß, in der Vertiefung
meiner Gedanken mochte ich zuweilen einer vollständig er¬
wachsenen ernsten Person ähnlich sehen. Zuletzt ging ich nur
noch mit den ältesten Mädchen, die sich dem Zwanzigsten
näherten, wagte aber nicht, mich in die Vertraulichkeiten
zu mischen, welche unter diesen Großen doch schon vor¬
kamen, sondern sehnte mich schweigsam nach der Heimkehr.
Denn immer fester bildete ich mir ein, daß Leodegar nicht
lange nachher eintreffen werde. Diese Hoffnung war auch
eine bittere Nothwendigkeit für mich: was in aller Welt
sollte ich mit meiner Religionsänderung anfangen ohne
Den, für welchen sie allein unternommen worden?

Mein Vater war in Italien und schrieb mir, er werde
mich im Herbst abholen; und da er gute Berichte über
mich erhalten, werde er mich zur Belohnung mit nach
dem klassischen Lande nehmen, wohin er für den Winter
und Frühling zurückzukehren gedenke. Dort würden mir
die letzten etwaigen Klostergedanken sicherlich vergehen.

"Daß ich's nicht vergesse," endigte der Brief, "unsern
Vetter Leodegar habe ich ganz zufällig in Rom getroffen.

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welcher ich Briefe wechſelte, erwähnten ſeiner auch nur
ein einziges Mal. Allein ich glaubte feſt, daß er eines
Tages, wenn die Zeit da ſei, kommen und mich und mein
Geheimniß befreien werde. Je weiter ſeine körperliche
Gegenwart in meiner Erinnerung zurücktrat, deſto heller
glänzte er, einem Sterne gleich, mir in der Seele. Das
zweite Jahr ging ſeinem Ende entgegen; ich war ſtark
gewachſen, und mit meinem Geheimniß, in der Vertiefung
meiner Gedanken mochte ich zuweilen einer vollſtändig er¬
wachſenen ernſten Perſon ähnlich ſehen. Zuletzt ging ich nur
noch mit den älteſten Mädchen, die ſich dem Zwanzigſten
näherten, wagte aber nicht, mich in die Vertraulichkeiten
zu miſchen, welche unter dieſen Großen doch ſchon vor¬
kamen, ſondern ſehnte mich ſchweigſam nach der Heimkehr.
Denn immer feſter bildete ich mir ein, daß Leodegar nicht
lange nachher eintreffen werde. Dieſe Hoffnung war auch
eine bittere Nothwendigkeit für mich: was in aller Welt
ſollte ich mit meiner Religionsänderung anfangen ohne
Den, für welchen ſie allein unternommen worden?

Mein Vater war in Italien und ſchrieb mir, er werde
mich im Herbſt abholen; und da er gute Berichte über
mich erhalten, werde er mich zur Belohnung mit nach
dem klaſſiſchen Lande nehmen, wohin er für den Winter
und Frühling zurückzukehren gedenke. Dort würden mir
die letzten etwaigen Kloſtergedanken ſicherlich vergehen.

„Daß ich's nicht vergeſſe,“ endigte der Brief, „unſern
Vetter Leodegar habe ich ganz zufällig in Rom getroffen.

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[403/0413] welcher ich Briefe wechſelte, erwähnten ſeiner auch nur ein einziges Mal. Allein ich glaubte feſt, daß er eines Tages, wenn die Zeit da ſei, kommen und mich und mein Geheimniß befreien werde. Je weiter ſeine körperliche Gegenwart in meiner Erinnerung zurücktrat, deſto heller glänzte er, einem Sterne gleich, mir in der Seele. Das zweite Jahr ging ſeinem Ende entgegen; ich war ſtark gewachſen, und mit meinem Geheimniß, in der Vertiefung meiner Gedanken mochte ich zuweilen einer vollſtändig er¬ wachſenen ernſten Perſon ähnlich ſehen. Zuletzt ging ich nur noch mit den älteſten Mädchen, die ſich dem Zwanzigſten näherten, wagte aber nicht, mich in die Vertraulichkeiten zu miſchen, welche unter dieſen Großen doch ſchon vor¬ kamen, ſondern ſehnte mich ſchweigſam nach der Heimkehr. Denn immer feſter bildete ich mir ein, daß Leodegar nicht lange nachher eintreffen werde. Dieſe Hoffnung war auch eine bittere Nothwendigkeit für mich: was in aller Welt ſollte ich mit meiner Religionsänderung anfangen ohne Den, für welchen ſie allein unternommen worden? Mein Vater war in Italien und ſchrieb mir, er werde mich im Herbſt abholen; und da er gute Berichte über mich erhalten, werde er mich zur Belohnung mit nach dem klaſſiſchen Lande nehmen, wohin er für den Winter und Frühling zurückzukehren gedenke. Dort würden mir die letzten etwaigen Kloſtergedanken ſicherlich vergehen. „Daß ich's nicht vergeſſe,“ endigte der Brief, „unſern Vetter Leodegar habe ich ganz zufällig in Rom getroffen. 26*

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 403. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/413>, abgerufen am 23.11.2024.