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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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Eindrücke sie hätten entscheiden können. Es kam auch in
der That vor, daß einzelne Pärchen scherzweise gefragt
wurden, was sie denn aneinander fänden, und es dann
lachend hieß, man wisse das eigentlich nicht und sei be¬
reit zu tauschen, wenn Jemand wolle. Für mich aber lag
noch ein freundliches Glück in dem Umstande, daß fast
alle Zöglinge edle und gebildete Mütter besaßen, deren
wohlwollende Freundschaft ich mitgenoß, wenn ich in den
Ferientagen die eine oder andere Tochter in ihre Heimat
begleitete, bald in eine Großstadt, bald auf das Land.
Dergleichen Aufenthalte in der Mitte vollzählig blühender
Familien mit gutgestimmtem Tone ergänzten in wohlthuen¬
der Weise meine Lehrjahre, und Alles wäre gut und schön
gewesen ohne das Geheimniß meines Gewissens.

Denn mit jedem Tage, den ich älter wurde, erkannte
ich deutlicher, daß es ganz unmöglich wäre, mich zu ent¬
decken, wenn ich in diesen ruhigen Kreisen, wo nichts
verfrüht und nichts gewaltsam gedreht wurde, nicht als
ein abenteuerliches bedenkliches Wesen erscheinen wollte.
Dieses ewige Verschweigen eines und desselben Geheim¬
nisses, daß ich nämlich katholisch und wie ich es geworden
sei, unterschied mich von der ganzen kleinen und großen
Welt, in der ich lebte.

Aber im gleichen Maße, in welchem die verschwiegene
Last an Schwere wuchs, wurde sie mir auch theurer. Ich
hörte nie etwas von Leodegar und wußte nicht, wo er
lebte. Weder der Vater noch die Schwester Klara, mit

Eindrücke ſie hätten entſcheiden können. Es kam auch in
der That vor, daß einzelne Pärchen ſcherzweiſe gefragt
wurden, was ſie denn aneinander fänden, und es dann
lachend hieß, man wiſſe das eigentlich nicht und ſei be¬
reit zu tauſchen, wenn Jemand wolle. Für mich aber lag
noch ein freundliches Glück in dem Umſtande, daß faſt
alle Zöglinge edle und gebildete Mütter beſaßen, deren
wohlwollende Freundſchaft ich mitgenoß, wenn ich in den
Ferientagen die eine oder andere Tochter in ihre Heimat
begleitete, bald in eine Großſtadt, bald auf das Land.
Dergleichen Aufenthalte in der Mitte vollzählig blühender
Familien mit gutgeſtimmtem Tone ergänzten in wohlthuen¬
der Weiſe meine Lehrjahre, und Alles wäre gut und ſchön
geweſen ohne das Geheimniß meines Gewiſſens.

Denn mit jedem Tage, den ich älter wurde, erkannte
ich deutlicher, daß es ganz unmöglich wäre, mich zu ent¬
decken, wenn ich in dieſen ruhigen Kreiſen, wo nichts
verfrüht und nichts gewaltſam gedreht wurde, nicht als
ein abenteuerliches bedenkliches Weſen erſcheinen wollte.
Dieſes ewige Verſchweigen eines und deſſelben Geheim¬
niſſes, daß ich nämlich katholiſch und wie ich es geworden
ſei, unterſchied mich von der ganzen kleinen und großen
Welt, in der ich lebte.

Aber im gleichen Maße, in welchem die verſchwiegene
Laſt an Schwere wuchs, wurde ſie mir auch theurer. Ich
hörte nie etwas von Leodegar und wußte nicht, wo er
lebte. Weder der Vater noch die Schweſter Klara, mit

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[402/0412] Eindrücke ſie hätten entſcheiden können. Es kam auch in der That vor, daß einzelne Pärchen ſcherzweiſe gefragt wurden, was ſie denn aneinander fänden, und es dann lachend hieß, man wiſſe das eigentlich nicht und ſei be¬ reit zu tauſchen, wenn Jemand wolle. Für mich aber lag noch ein freundliches Glück in dem Umſtande, daß faſt alle Zöglinge edle und gebildete Mütter beſaßen, deren wohlwollende Freundſchaft ich mitgenoß, wenn ich in den Ferientagen die eine oder andere Tochter in ihre Heimat begleitete, bald in eine Großſtadt, bald auf das Land. Dergleichen Aufenthalte in der Mitte vollzählig blühender Familien mit gutgeſtimmtem Tone ergänzten in wohlthuen¬ der Weiſe meine Lehrjahre, und Alles wäre gut und ſchön geweſen ohne das Geheimniß meines Gewiſſens. Denn mit jedem Tage, den ich älter wurde, erkannte ich deutlicher, daß es ganz unmöglich wäre, mich zu ent¬ decken, wenn ich in dieſen ruhigen Kreiſen, wo nichts verfrüht und nichts gewaltſam gedreht wurde, nicht als ein abenteuerliches bedenkliches Weſen erſcheinen wollte. Dieſes ewige Verſchweigen eines und deſſelben Geheim¬ niſſes, daß ich nämlich katholiſch und wie ich es geworden ſei, unterſchied mich von der ganzen kleinen und großen Welt, in der ich lebte. Aber im gleichen Maße, in welchem die verſchwiegene Laſt an Schwere wuchs, wurde ſie mir auch theurer. Ich hörte nie etwas von Leodegar und wußte nicht, wo er lebte. Weder der Vater noch die Schweſter Klara, mit

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 402. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/412>, abgerufen am 23.11.2024.