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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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schüttelte den Kopf. Allein an Hingebung und Gehorsam
gewöhnt, wagte sie nicht, mein Ansinnen von sich aus zu
beantworten; sie begab sich unverweilt zu der Frau
Priorin und theilte derselben die wichtige Neuigkeit mit.
Die Priorin schüttelte ebenfalls den Kopf, worauf sie in
die Probstei hinüberging, um den über das Kloster ge¬
setzten Probst von der Sache zu unterrichten. Er
wandelte aber mit seinem Brevier auf seinem Lieblings¬
pfade am Flußufer, und um nichts zu versäumen, watschelte
die besorgte Vorsteherin ihm nach, bis sie ihn fand. Er
schüttelte seines Theils mit nichten das Haupt, zog viel¬
mehr den Fall in ernstliche Erwägung und entschied sich
dahin, daß ich zur Prüfung und Beobachtung einige Tage
zu beherbergen sei, indeß er den Rath seines Abtes einhole.

Was mich betraf, so verharrte ich auf meinem Vor¬
satze; höheren Orts wurde überlegt, wie ich die muthmaßlich
einzige Erbin des vorhandenen Vermögens, das Kind
einer Katholikin sei, welche, durch den ketzerischen Ehemann
dem rechten Glauben entzogen, ohne die Tröstungen der
Kirche verstorben; wie mein Begehren offenbar eine
Fügung sei, deren mögliche Früchte für Stift und Kirche
nicht leichthin verscherzt werden dürften.

Nun war ich nach den Landesgesetzen, wenn ich erst
ein Jahr älter geworden, berechtigt, nach freier Wahl
den Uebertritt zu thun, auch gegen des Vaters Willen.
Es ward also die Frage gestellt: sollte man dies Jahr
verfließen lassen und mich thunlichst unter den Augen

ſchüttelte den Kopf. Allein an Hingebung und Gehorſam
gewöhnt, wagte ſie nicht, mein Anſinnen von ſich aus zu
beantworten; ſie begab ſich unverweilt zu der Frau
Priorin und theilte derſelben die wichtige Neuigkeit mit.
Die Priorin ſchüttelte ebenfalls den Kopf, worauf ſie in
die Probſtei hinüberging, um den über das Kloſter ge¬
ſetzten Probſt von der Sache zu unterrichten. Er
wandelte aber mit ſeinem Brevier auf ſeinem Lieblings¬
pfade am Flußufer, und um nichts zu verſäumen, watſchelte
die beſorgte Vorſteherin ihm nach, bis ſie ihn fand. Er
ſchüttelte ſeines Theils mit nichten das Haupt, zog viel¬
mehr den Fall in ernſtliche Erwägung und entſchied ſich
dahin, daß ich zur Prüfung und Beobachtung einige Tage
zu beherbergen ſei, indeß er den Rath ſeines Abtes einhole.

Was mich betraf, ſo verharrte ich auf meinem Vor¬
ſatze; höheren Orts wurde überlegt, wie ich die muthmaßlich
einzige Erbin des vorhandenen Vermögens, das Kind
einer Katholikin ſei, welche, durch den ketzeriſchen Ehemann
dem rechten Glauben entzogen, ohne die Tröſtungen der
Kirche verſtorben; wie mein Begehren offenbar eine
Fügung ſei, deren mögliche Früchte für Stift und Kirche
nicht leichthin verſcherzt werden dürften.

Nun war ich nach den Landesgeſetzen, wenn ich erſt
ein Jahr älter geworden, berechtigt, nach freier Wahl
den Uebertritt zu thun, auch gegen des Vaters Willen.
Es ward alſo die Frage geſtellt: ſollte man dies Jahr
verfließen laſſen und mich thunlichſt unter den Augen

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[396/0406] ſchüttelte den Kopf. Allein an Hingebung und Gehorſam gewöhnt, wagte ſie nicht, mein Anſinnen von ſich aus zu beantworten; ſie begab ſich unverweilt zu der Frau Priorin und theilte derſelben die wichtige Neuigkeit mit. Die Priorin ſchüttelte ebenfalls den Kopf, worauf ſie in die Probſtei hinüberging, um den über das Kloſter ge¬ ſetzten Probſt von der Sache zu unterrichten. Er wandelte aber mit ſeinem Brevier auf ſeinem Lieblings¬ pfade am Flußufer, und um nichts zu verſäumen, watſchelte die beſorgte Vorſteherin ihm nach, bis ſie ihn fand. Er ſchüttelte ſeines Theils mit nichten das Haupt, zog viel¬ mehr den Fall in ernſtliche Erwägung und entſchied ſich dahin, daß ich zur Prüfung und Beobachtung einige Tage zu beherbergen ſei, indeß er den Rath ſeines Abtes einhole. Was mich betraf, ſo verharrte ich auf meinem Vor¬ ſatze; höheren Orts wurde überlegt, wie ich die muthmaßlich einzige Erbin des vorhandenen Vermögens, das Kind einer Katholikin ſei, welche, durch den ketzeriſchen Ehemann dem rechten Glauben entzogen, ohne die Tröſtungen der Kirche verſtorben; wie mein Begehren offenbar eine Fügung ſei, deren mögliche Früchte für Stift und Kirche nicht leichthin verſcherzt werden dürften. Nun war ich nach den Landesgeſetzen, wenn ich erſt ein Jahr älter geworden, berechtigt, nach freier Wahl den Uebertritt zu thun, auch gegen des Vaters Willen. Es ward alſo die Frage geſtellt: ſollte man dies Jahr verfließen laſſen und mich thunlichſt unter den Augen

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 396. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/406>, abgerufen am 25.11.2024.