Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

Bild:
<< vorherige Seite

Beschreibung all' der Liebenswürdigkeit, der männlichen
Schönheit und Jugend des Verlorenen, der in seinem
Umgange genossenen Glückseligkeit verklärte die Erzählende
mit einem solchen Abglanz der Erinnerung und Sehnsucht,
daß trotz der stark angegrauten Haare, die im Neglige
unter dem gefältelten Häubchen hervor über Nacken und
Schultern herunter flossen, eine neue Jugend ihr Gesicht
zu beleben und rosig zu färben schien.

Ganz begeistert fiel Thibaut auf ein Knie, wie wenn
er selbst der verlorene Liebhaber wäre, und rief, die
Hände auf sein Herz legend: "Ich schwöre Ihnen, theuerste
Tante, daß ich Sie ähnlich geliebt haben würde, wäre
meine Jugend mit der Ihrigen zusammengefallen! Ja
ich liebe Sie jetzt, wie nur eine junge Seele eine andere
junge Seele lieben kann! O schenken Sie mir Ihr schönes
Herz, ich will es hegen und an mich schließen, daß es
nicht mehr einsam ist!"

Er war in der That so närrisch verzückt, daß er
selbst nicht wußte, ob er das kleine Schmuckherz oder das
liebende Menschenherz verlangte; die Tante Angelika aber
verwechselte in ihrer Schwärmerei den gegenwärtigen
Augenblick mit der Vergangenheit und den neben ihr
knieenden Jüngling mit dem lange entschwundenen Ge¬
liebten. Sie schlang in süßer Vergessenheit beide Arme
um den Hals des hübschen Schlingels und drückte ihm
mehrere Küsse auf die Lippen, und der Taugenichts ent¬
blödete sich nicht, der traumvergessenen würdigen Dame

23*

Beſchreibung all' der Liebenswürdigkeit, der männlichen
Schönheit und Jugend des Verlorenen, der in ſeinem
Umgange genoſſenen Glückſeligkeit verklärte die Erzählende
mit einem ſolchen Abglanz der Erinnerung und Sehnſucht,
daß trotz der ſtark angegrauten Haare, die im Negligé
unter dem gefältelten Häubchen hervor über Nacken und
Schultern herunter floſſen, eine neue Jugend ihr Geſicht
zu beleben und roſig zu färben ſchien.

Ganz begeiſtert fiel Thibaut auf ein Knie, wie wenn
er ſelbſt der verlorene Liebhaber wäre, und rief, die
Hände auf ſein Herz legend: „Ich ſchwöre Ihnen, theuerſte
Tante, daß ich Sie ähnlich geliebt haben würde, wäre
meine Jugend mit der Ihrigen zuſammengefallen! Ja
ich liebe Sie jetzt, wie nur eine junge Seele eine andere
junge Seele lieben kann! O ſchenken Sie mir Ihr ſchönes
Herz, ich will es hegen und an mich ſchließen, daß es
nicht mehr einſam iſt!“

Er war in der That ſo närriſch verzückt, daß er
ſelbſt nicht wußte, ob er das kleine Schmuckherz oder das
liebende Menſchenherz verlangte; die Tante Angelika aber
verwechſelte in ihrer Schwärmerei den gegenwärtigen
Augenblick mit der Vergangenheit und den neben ihr
knieenden Jüngling mit dem lange entſchwundenen Ge¬
liebten. Sie ſchlang in ſüßer Vergeſſenheit beide Arme
um den Hals des hübſchen Schlingels und drückte ihm
mehrere Küſſe auf die Lippen, und der Taugenichts ent¬
blödete ſich nicht, der traumvergeſſenen würdigen Dame

23*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0365" n="355"/>
Be&#x017F;chreibung all' der Liebenswürdigkeit, der männlichen<lb/>
Schönheit und Jugend des Verlorenen, der in &#x017F;einem<lb/>
Umgange geno&#x017F;&#x017F;enen Glück&#x017F;eligkeit verklärte die Erzählende<lb/>
mit einem &#x017F;olchen Abglanz der Erinnerung und Sehn&#x017F;ucht,<lb/>
daß trotz der &#x017F;tark angegrauten Haare, die im Neglig<hi rendition="#aq">é</hi><lb/>
unter dem gefältelten Häubchen hervor über Nacken und<lb/>
Schultern herunter flo&#x017F;&#x017F;en, eine neue Jugend ihr Ge&#x017F;icht<lb/>
zu beleben und ro&#x017F;ig zu färben &#x017F;chien.</p><lb/>
          <p>Ganz begei&#x017F;tert fiel Thibaut auf ein Knie, wie wenn<lb/>
er &#x017F;elb&#x017F;t der verlorene Liebhaber wäre, und rief, die<lb/>
Hände auf &#x017F;ein Herz legend: &#x201E;Ich &#x017F;chwöre Ihnen, theuer&#x017F;te<lb/>
Tante, daß ich Sie ähnlich geliebt haben würde, wäre<lb/>
meine Jugend mit der Ihrigen zu&#x017F;ammengefallen! Ja<lb/>
ich liebe Sie jetzt, wie nur eine junge Seele eine andere<lb/>
junge Seele lieben kann! O &#x017F;chenken Sie mir Ihr &#x017F;chönes<lb/>
Herz, ich will es hegen und an mich &#x017F;chließen, daß es<lb/>
nicht mehr ein&#x017F;am i&#x017F;t!&#x201C;</p><lb/>
          <p>Er war in der That &#x017F;o närri&#x017F;ch verzückt, daß er<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t nicht wußte, ob er das kleine Schmuckherz oder das<lb/>
liebende Men&#x017F;chenherz verlangte; die Tante Angelika aber<lb/>
verwech&#x017F;elte in ihrer Schwärmerei den gegenwärtigen<lb/>
Augenblick mit der Vergangenheit und den neben ihr<lb/>
knieenden Jüngling mit dem lange ent&#x017F;chwundenen Ge¬<lb/>
liebten. Sie &#x017F;chlang in &#x017F;üßer Verge&#x017F;&#x017F;enheit beide Arme<lb/>
um den Hals des hüb&#x017F;chen Schlingels und drückte ihm<lb/>
mehrere Kü&#x017F;&#x017F;e auf die Lippen, und der Taugenichts ent¬<lb/>
blödete &#x017F;ich nicht, der traumverge&#x017F;&#x017F;enen würdigen Dame<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">23*<lb/></fw>
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[355/0365] Beſchreibung all' der Liebenswürdigkeit, der männlichen Schönheit und Jugend des Verlorenen, der in ſeinem Umgange genoſſenen Glückſeligkeit verklärte die Erzählende mit einem ſolchen Abglanz der Erinnerung und Sehnſucht, daß trotz der ſtark angegrauten Haare, die im Negligé unter dem gefältelten Häubchen hervor über Nacken und Schultern herunter floſſen, eine neue Jugend ihr Geſicht zu beleben und roſig zu färben ſchien. Ganz begeiſtert fiel Thibaut auf ein Knie, wie wenn er ſelbſt der verlorene Liebhaber wäre, und rief, die Hände auf ſein Herz legend: „Ich ſchwöre Ihnen, theuerſte Tante, daß ich Sie ähnlich geliebt haben würde, wäre meine Jugend mit der Ihrigen zuſammengefallen! Ja ich liebe Sie jetzt, wie nur eine junge Seele eine andere junge Seele lieben kann! O ſchenken Sie mir Ihr ſchönes Herz, ich will es hegen und an mich ſchließen, daß es nicht mehr einſam iſt!“ Er war in der That ſo närriſch verzückt, daß er ſelbſt nicht wußte, ob er das kleine Schmuckherz oder das liebende Menſchenherz verlangte; die Tante Angelika aber verwechſelte in ihrer Schwärmerei den gegenwärtigen Augenblick mit der Vergangenheit und den neben ihr knieenden Jüngling mit dem lange entſchwundenen Ge¬ liebten. Sie ſchlang in ſüßer Vergeſſenheit beide Arme um den Hals des hübſchen Schlingels und drückte ihm mehrere Küſſe auf die Lippen, und der Taugenichts ent¬ blödete ſich nicht, der traumvergeſſenen würdigen Dame 23*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/365
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 355. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/365>, abgerufen am 22.11.2024.