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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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Decret da war, und damit verfloß auch die Zeit, welche
er bei allem Ansehen, dessen er genoß, in Europa zu¬
bringen konnte.

Eines Abends spät ging er in seinem Gemache nach¬
denklich auf und ab und überlegte sich, ob es seiner
würdig sei, in dieser Weiberfrage so viel Wesens zu
machen und so viel Aergerniß zu dulden, und ob das
Bedürfniß und Project, sich ein so stilles weiches Ruhe¬
bett in der Häuslichkeit zu bereiten, überhaupt vor einem
höheren Urtheile zu rechtfertigen sei. Der Page Luis
saß an dem Tische in der Mitte des Zimmers, über eine
große Seekarte gebückt und halb in Schlummer versunken;
denn der Admiral gab ihm selber Unterricht in der
Schifffahrtskenntniß und prüfte ihn zuweilen, was er
auch diesen Abend gethan hatte, bis er durch den Haupt¬
gegenstand, der ihn belästigte, selbst zerstreut wurde und
den Knaben außer Acht ließ. Die Kerzen des silbernen
Kandelabers, der die Seekarte mit ihren unbeholfenen
Gebilden beleuchtete, waren zur Hälfte herabgebrannt,
und die Stutzuhr auf dem Kamine zeigte die zehnte und
eine halbe Stunde.

"Ich bin nun sechsunddreißig Jahre alt", sagte er
bei sich, "und dürfte die Fackel des Eros füglich aus¬
löschen! Wer Krieg führen und befehlen soll, muß reinen
Tisch im Herzen und kühles Blut haben. Das Haus ist
freilich zu erhalten; allein vielleicht wäre es am besten,
dem Willen der Frau Muhme zu folgen und eine gleich¬

Decret da war, und damit verfloß auch die Zeit, welche
er bei allem Anſehen, deſſen er genoß, in Europa zu¬
bringen konnte.

Eines Abends ſpät ging er in ſeinem Gemache nach¬
denklich auf und ab und überlegte ſich, ob es ſeiner
würdig ſei, in dieſer Weiberfrage ſo viel Weſens zu
machen und ſo viel Aergerniß zu dulden, und ob das
Bedürfniß und Project, ſich ein ſo ſtilles weiches Ruhe¬
bett in der Häuslichkeit zu bereiten, überhaupt vor einem
höheren Urtheile zu rechtfertigen ſei. Der Page Luis
ſaß an dem Tiſche in der Mitte des Zimmers, über eine
große Seekarte gebückt und halb in Schlummer verſunken;
denn der Admiral gab ihm ſelber Unterricht in der
Schifffahrtskenntniß und prüfte ihn zuweilen, was er
auch dieſen Abend gethan hatte, bis er durch den Haupt¬
gegenſtand, der ihn beläſtigte, ſelbſt zerſtreut wurde und
den Knaben außer Acht ließ. Die Kerzen des ſilbernen
Kandelabers, der die Seekarte mit ihren unbeholfenen
Gebilden beleuchtete, waren zur Hälfte herabgebrannt,
und die Stutzuhr auf dem Kamine zeigte die zehnte und
eine halbe Stunde.

„Ich bin nun ſechsunddreißig Jahre alt“, ſagte er
bei ſich, „und dürfte die Fackel des Eros füglich aus¬
löſchen! Wer Krieg führen und befehlen ſoll, muß reinen
Tiſch im Herzen und kühles Blut haben. Das Haus iſt
freilich zu erhalten; allein vielleicht wäre es am beſten,
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[334/0344] Decret da war, und damit verfloß auch die Zeit, welche er bei allem Anſehen, deſſen er genoß, in Europa zu¬ bringen konnte. Eines Abends ſpät ging er in ſeinem Gemache nach¬ denklich auf und ab und überlegte ſich, ob es ſeiner würdig ſei, in dieſer Weiberfrage ſo viel Weſens zu machen und ſo viel Aergerniß zu dulden, und ob das Bedürfniß und Project, ſich ein ſo ſtilles weiches Ruhe¬ bett in der Häuslichkeit zu bereiten, überhaupt vor einem höheren Urtheile zu rechtfertigen ſei. Der Page Luis ſaß an dem Tiſche in der Mitte des Zimmers, über eine große Seekarte gebückt und halb in Schlummer verſunken; denn der Admiral gab ihm ſelber Unterricht in der Schifffahrtskenntniß und prüfte ihn zuweilen, was er auch dieſen Abend gethan hatte, bis er durch den Haupt¬ gegenſtand, der ihn beläſtigte, ſelbſt zerſtreut wurde und den Knaben außer Acht ließ. Die Kerzen des ſilbernen Kandelabers, der die Seekarte mit ihren unbeholfenen Gebilden beleuchtete, waren zur Hälfte herabgebrannt, und die Stutzuhr auf dem Kamine zeigte die zehnte und eine halbe Stunde. „Ich bin nun ſechsunddreißig Jahre alt“, ſagte er bei ſich, „und dürfte die Fackel des Eros füglich aus¬ löſchen! Wer Krieg führen und befehlen ſoll, muß reinen Tiſch im Herzen und kühles Blut haben. Das Haus iſt freilich zu erhalten; allein vielleicht wäre es am beſten, dem Willen der Frau Muhme zu folgen und eine gleich¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 334. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/344>, abgerufen am 25.11.2024.