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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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und sehen, ob meine Zeitungen angekommen sind. Soll
ich Ihnen auch welche schicken, Sohn Hildeburg's?"

"Zeitungen werden für Ihre angegriffenen Augen
schwerlich gut sein", sagte Lucie; "wenn Sie lesen wollen,
so holen sie sich lieber irgend ein altes Buch mit großem
Druck, Sie wissen ja wo, und bleiben Sie dort im
kühlen Schatten oder gehen Sie damit unter die Bäume!
Ich muß jetzt leider ein bischen nach der Wirthschaft
sehen!"

Luciens Sorge für seine Augen, deren Zustand er
beinahe selbst vergessen hatte, that ihm so wohl, daß er
sich ohne Widerrede fügte und nach ihrem Bücher- und
Arbeitszimmer ging, nachdem die drei Personen sich ge¬
trennt. Er griff das erste beste Buch, ohne es anzusehen,
von einem Regale herunter, und da es in dem Zimmer
ihm nicht ganz geheuer dünkte, begab er sich in den
Vexierwald hinaus, durch welchen er hergekommen war.
Dort bemächtigte sich seiner immer mehr ein gedrücktes
Wesen, das sich zuletzt in dem Seufzer Luft machte:
Wär' ich doch in meinen vier Wänden geblieben! Nicht
nur die vernommene Kunde von den ganz ungewöhnlichen
Jugendthaten seiner Mutter, die Anwesenheit eines Lieb¬
habers und Rivalen seines Vaters, sondern auch der
ungebührlich wachsende Eindruck, den Lucie auf ihn machte,
verwirrten und verdüsterten ihm das Gemüth. Das
waren ja Teufelsgeschichten! Der Verlust seiner goldenen
Freiheit und Unbefangenheit, der im Anzuge war, wollte

und ſehen, ob meine Zeitungen angekommen ſind. Soll
ich Ihnen auch welche ſchicken, Sohn Hildeburg's?“

„Zeitungen werden für Ihre angegriffenen Augen
ſchwerlich gut ſein“, ſagte Lucie; „wenn Sie leſen wollen,
ſo holen ſie ſich lieber irgend ein altes Buch mit großem
Druck, Sie wiſſen ja wo, und bleiben Sie dort im
kühlen Schatten oder gehen Sie damit unter die Bäume!
Ich muß jetzt leider ein bischen nach der Wirthſchaft
ſehen!“

Luciens Sorge für ſeine Augen, deren Zuſtand er
beinahe ſelbſt vergeſſen hatte, that ihm ſo wohl, daß er
ſich ohne Widerrede fügte und nach ihrem Bücher- und
Arbeitszimmer ging, nachdem die drei Perſonen ſich ge¬
trennt. Er griff das erſte beſte Buch, ohne es anzuſehen,
von einem Regale herunter, und da es in dem Zimmer
ihm nicht ganz geheuer dünkte, begab er ſich in den
Vexierwald hinaus, durch welchen er hergekommen war.
Dort bemächtigte ſich ſeiner immer mehr ein gedrücktes
Weſen, das ſich zuletzt in dem Seufzer Luft machte:
Wär' ich doch in meinen vier Wänden geblieben! Nicht
nur die vernommene Kunde von den ganz ungewöhnlichen
Jugendthaten ſeiner Mutter, die Anweſenheit eines Lieb¬
habers und Rivalen ſeines Vaters, ſondern auch der
ungebührlich wachſende Eindruck, den Lucie auf ihn machte,
verwirrten und verdüſterten ihm das Gemüth. Das
waren ja Teufelsgeſchichten! Der Verluſt ſeiner goldenen
Freiheit und Unbefangenheit, der im Anzuge war, wollte

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[261/0271] und ſehen, ob meine Zeitungen angekommen ſind. Soll ich Ihnen auch welche ſchicken, Sohn Hildeburg's?“ „Zeitungen werden für Ihre angegriffenen Augen ſchwerlich gut ſein“, ſagte Lucie; „wenn Sie leſen wollen, ſo holen ſie ſich lieber irgend ein altes Buch mit großem Druck, Sie wiſſen ja wo, und bleiben Sie dort im kühlen Schatten oder gehen Sie damit unter die Bäume! Ich muß jetzt leider ein bischen nach der Wirthſchaft ſehen!“ Luciens Sorge für ſeine Augen, deren Zuſtand er beinahe ſelbſt vergeſſen hatte, that ihm ſo wohl, daß er ſich ohne Widerrede fügte und nach ihrem Bücher- und Arbeitszimmer ging, nachdem die drei Perſonen ſich ge¬ trennt. Er griff das erſte beſte Buch, ohne es anzuſehen, von einem Regale herunter, und da es in dem Zimmer ihm nicht ganz geheuer dünkte, begab er ſich in den Vexierwald hinaus, durch welchen er hergekommen war. Dort bemächtigte ſich ſeiner immer mehr ein gedrücktes Weſen, das ſich zuletzt in dem Seufzer Luft machte: Wär' ich doch in meinen vier Wänden geblieben! Nicht nur die vernommene Kunde von den ganz ungewöhnlichen Jugendthaten ſeiner Mutter, die Anweſenheit eines Lieb¬ habers und Rivalen ſeines Vaters, ſondern auch der ungebührlich wachſende Eindruck, den Lucie auf ihn machte, verwirrten und verdüſterten ihm das Gemüth. Das waren ja Teufelsgeſchichten! Der Verluſt ſeiner goldenen Freiheit und Unbefangenheit, der im Anzuge war, wollte

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 261. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/271>, abgerufen am 22.11.2024.