Drittes Capitel Worin es zur andern Hälfte gelingt.
Hierauf durchritt er verschiedene Gegenden, bis es Mittag wurde, ohne daß ihm eine weitere günstige Ge¬ legenheit aufgestoßen wäre. Jetzt erinnerte ihn aber der Hunger daran, daß es Zeit zur Einkehr sei und eben, als er das Pferd zu einem Wirthshause lenken wollte, fiel ihm der Pfarrherr des Dorfes ein, welcher ein alter Bekannter von ihm sein mußte, und er richtete seinen Weg nach dem Pfarrhause. Dort erregte er ein großes Er¬ staunen und eine unverhehlte Freude, die alsobald nach Schüsseln und Tellern, nach Töpfchen und Gläsern, nach Eingemachtem und Gebackenem auseinander lief, um das gewöhnliche Mittagsmahl zu erweitern. Zuletzt erschien eine blühende Tochter, deren Dasein Reinhart mit den Jahren vergessen hatte; überrascht erinnerte er sich nun wohl des artigen kleinen Mädchens, welches jetzt zur Jungfrau herangewachsen war, deren Wangen ein feines Roth schmückte und deren längliche Nase gleich einem ernsten Zeiger andächtig zur Erde wies, wohin auch der
Drittes Capitel Worin es zur andern Hälfte gelingt.
Hierauf durchritt er verſchiedene Gegenden, bis es Mittag wurde, ohne daß ihm eine weitere günſtige Ge¬ legenheit aufgeſtoßen wäre. Jetzt erinnerte ihn aber der Hunger daran, daß es Zeit zur Einkehr ſei und eben, als er das Pferd zu einem Wirthshauſe lenken wollte, fiel ihm der Pfarrherr des Dorfes ein, welcher ein alter Bekannter von ihm ſein mußte, und er richtete ſeinen Weg nach dem Pfarrhauſe. Dort erregte er ein großes Er¬ ſtaunen und eine unverhehlte Freude, die alſobald nach Schüſſeln und Tellern, nach Töpfchen und Gläſern, nach Eingemachtem und Gebackenem auseinander lief, um das gewöhnliche Mittagsmahl zu erweitern. Zuletzt erſchien eine blühende Tochter, deren Daſein Reinhart mit den Jahren vergeſſen hatte; überraſcht erinnerte er ſich nun wohl des artigen kleinen Mädchens, welches jetzt zur Jungfrau herangewachſen war, deren Wangen ein feines Roth ſchmückte und deren längliche Naſe gleich einem ernſten Zeiger andächtig zur Erde wies, wohin auch der
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0025"n="[15]"/><divn="2"><head><hirendition="#b">Drittes Capitel<lb/>
Worin es zur andern Hälfte gelingt.</hi><lb/></head><p><hirendition="#in">H</hi>ierauf durchritt er verſchiedene Gegenden, bis es<lb/>
Mittag wurde, ohne daß ihm eine weitere günſtige Ge¬<lb/>
legenheit aufgeſtoßen wäre. Jetzt erinnerte ihn aber der<lb/>
Hunger daran, daß es Zeit zur Einkehr ſei und eben,<lb/>
als er das Pferd zu einem Wirthshauſe lenken wollte,<lb/>
fiel ihm der Pfarrherr des Dorfes ein, welcher ein alter<lb/>
Bekannter von ihm ſein mußte, und er richtete ſeinen Weg<lb/>
nach dem Pfarrhauſe. Dort erregte er ein großes Er¬<lb/>ſtaunen und eine unverhehlte Freude, die alſobald nach<lb/>
Schüſſeln und Tellern, nach Töpfchen und Gläſern, nach<lb/>
Eingemachtem und Gebackenem auseinander lief, um das<lb/>
gewöhnliche Mittagsmahl zu erweitern. Zuletzt erſchien<lb/>
eine blühende Tochter, deren Daſein Reinhart mit den<lb/>
Jahren vergeſſen hatte; überraſcht erinnerte er ſich nun<lb/>
wohl des artigen kleinen Mädchens, welches jetzt zur<lb/>
Jungfrau herangewachſen war, deren Wangen ein feines<lb/>
Roth ſchmückte und deren längliche Naſe gleich einem<lb/>
ernſten Zeiger andächtig zur Erde wies, wohin auch der<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[[15]/0025]
Drittes Capitel
Worin es zur andern Hälfte gelingt.
Hierauf durchritt er verſchiedene Gegenden, bis es
Mittag wurde, ohne daß ihm eine weitere günſtige Ge¬
legenheit aufgeſtoßen wäre. Jetzt erinnerte ihn aber der
Hunger daran, daß es Zeit zur Einkehr ſei und eben,
als er das Pferd zu einem Wirthshauſe lenken wollte,
fiel ihm der Pfarrherr des Dorfes ein, welcher ein alter
Bekannter von ihm ſein mußte, und er richtete ſeinen Weg
nach dem Pfarrhauſe. Dort erregte er ein großes Er¬
ſtaunen und eine unverhehlte Freude, die alſobald nach
Schüſſeln und Tellern, nach Töpfchen und Gläſern, nach
Eingemachtem und Gebackenem auseinander lief, um das
gewöhnliche Mittagsmahl zu erweitern. Zuletzt erſchien
eine blühende Tochter, deren Daſein Reinhart mit den
Jahren vergeſſen hatte; überraſcht erinnerte er ſich nun
wohl des artigen kleinen Mädchens, welches jetzt zur
Jungfrau herangewachſen war, deren Wangen ein feines
Roth ſchmückte und deren längliche Naſe gleich einem
ernſten Zeiger andächtig zur Erde wies, wohin auch der
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. [15]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/25>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.