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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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gar zu merkwürdig aus, fast wie wenn sie besessen wäre:
"Ich weiß von nichts und hoffe, er lebt noch!"

"Den Teufel hoffst Du!" rief sie mit funkelnden
Augen und lachte jählings laut auf, indessen mich das
Gewissen Lügen strafte. Denn in diesem Augenblicke
schien es mir, daß ich nicht genug gethan hatte, um über
das Schicksal Mannelin's in's Klare zu kommen, und zu¬
gleich fühlte ich mich von brennender Eifersucht gegen den
Abwesenden gepeinigt, der so leidenschaftlich betrauert
wurde. Sie hatte ihn offenbar mehr geliebt oder liebte
jetzt noch nur ihn. In dieser Beklemmung that ich einen
unfreiwilligen schweren Seufzer, worauf Hildeburg mich
bei der Hand nahm und mit veränderter Stimme sagte:
"Kommen Sie und sprechen wir vor der Hand nicht mehr
davon!"

Ruhig ging sie neben mir in den Saal zurück, wo
eine Erfrischung aufgetragen war, und als ich gegen Abend
mich nach der Stadt begab, reichte sie mir treuherzig die
Hand und sagte: "Sie hoffe mich noch öfter zu sehen,
so lange das Regiment in der Gegend bleibe." Da die
Witterung meistens gut war, so fand sich fast täglich
Ursache und Vorwand, den Spazierritt zu wiederholen,
und wenn ich ausblieb, sagte Hildeburg am nächsten Tage
sogleich: "Warum sind Sie gestern nicht gekommen?"
Sie schien sich mir wieder mehr zuzuneigen, und das eine
Mal verlor sie unversehens einen trauten Blick an mich,
das andere Mal streifte sie mich leicht mit einer Be¬

gar zu merkwürdig aus, faſt wie wenn ſie beſeſſen wäre:
„Ich weiß von nichts und hoffe, er lebt noch!“

„Den Teufel hoffſt Du!“ rief ſie mit funkelnden
Augen und lachte jählings laut auf, indeſſen mich das
Gewiſſen Lügen ſtrafte. Denn in dieſem Augenblicke
ſchien es mir, daß ich nicht genug gethan hatte, um über
das Schickſal Mannelin's in's Klare zu kommen, und zu¬
gleich fühlte ich mich von brennender Eiferſucht gegen den
Abweſenden gepeinigt, der ſo leidenſchaftlich betrauert
wurde. Sie hatte ihn offenbar mehr geliebt oder liebte
jetzt noch nur ihn. In dieſer Beklemmung that ich einen
unfreiwilligen ſchweren Seufzer, worauf Hildeburg mich
bei der Hand nahm und mit veränderter Stimme ſagte:
„Kommen Sie und ſprechen wir vor der Hand nicht mehr
davon!“

Ruhig ging ſie neben mir in den Saal zurück, wo
eine Erfriſchung aufgetragen war, und als ich gegen Abend
mich nach der Stadt begab, reichte ſie mir treuherzig die
Hand und ſagte: „Sie hoffe mich noch öfter zu ſehen,
ſo lange das Regiment in der Gegend bleibe.“ Da die
Witterung meiſtens gut war, ſo fand ſich faſt täglich
Urſache und Vorwand, den Spazierritt zu wiederholen,
und wenn ich ausblieb, ſagte Hildeburg am nächſten Tage
ſogleich: „Warum ſind Sie geſtern nicht gekommen?“
Sie ſchien ſich mir wieder mehr zuzuneigen, und das eine
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[234/0244] gar zu merkwürdig aus, faſt wie wenn ſie beſeſſen wäre: „Ich weiß von nichts und hoffe, er lebt noch!“ „Den Teufel hoffſt Du!“ rief ſie mit funkelnden Augen und lachte jählings laut auf, indeſſen mich das Gewiſſen Lügen ſtrafte. Denn in dieſem Augenblicke ſchien es mir, daß ich nicht genug gethan hatte, um über das Schickſal Mannelin's in's Klare zu kommen, und zu¬ gleich fühlte ich mich von brennender Eiferſucht gegen den Abweſenden gepeinigt, der ſo leidenſchaftlich betrauert wurde. Sie hatte ihn offenbar mehr geliebt oder liebte jetzt noch nur ihn. In dieſer Beklemmung that ich einen unfreiwilligen ſchweren Seufzer, worauf Hildeburg mich bei der Hand nahm und mit veränderter Stimme ſagte: „Kommen Sie und ſprechen wir vor der Hand nicht mehr davon!“ Ruhig ging ſie neben mir in den Saal zurück, wo eine Erfriſchung aufgetragen war, und als ich gegen Abend mich nach der Stadt begab, reichte ſie mir treuherzig die Hand und ſagte: „Sie hoffe mich noch öfter zu ſehen, ſo lange das Regiment in der Gegend bleibe.“ Da die Witterung meiſtens gut war, ſo fand ſich faſt täglich Urſache und Vorwand, den Spazierritt zu wiederholen, und wenn ich ausblieb, ſagte Hildeburg am nächſten Tage ſogleich: „Warum ſind Sie geſtern nicht gekommen?“ Sie ſchien ſich mir wieder mehr zuzuneigen, und das eine Mal verlor ſie unverſehens einen trauten Blick an mich, das andere Mal ſtreifte ſie mich leicht mit einer Be¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/244>, abgerufen am 24.11.2024.