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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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lich nicht mit reumüthigen Betrachtungen über die be¬
gangenen dummen Streiche aufhalten kann. Denn die¬
selben scheinen in der perspectivischen Verkürzung so dicht
hinter einander zu stehen, wie jene Meilensteine, welche
der Reiter für die Leichensteine eines Kirchhofes ansah,
als er auf seinem Zauberpferde an ihnen vorüberjagte.
Dennoch gibt es eine Art von Fehlern, Begehungen oder
Unterlassungen scheinbar ganz unbedeutender und harm¬
loser Art, welche ihrer Folgen wegen zehnmal schwerer im
Gedächtniß haften bleiben, als die gröberen Vergehungen
und Versäumnisse, und während wir diese in unserem
Sinne längst genugsam bedauert und gebüßt haben, über¬
kommt uns immer wieder Reu' und Aerger, sobald jene
in der Erinnerung aufleben. Man verzögert den Besuch
bei einem Kranken, und er stirbt, ohne ein letztes Wort
gesagt zu haben, dessen man bedurfte. Einem guten
Freunde haben wir Opfer gebracht und große Dienste
geleistet; aber wir lassen ihn mit einer kleinen Freund¬
lichkeit im Stiche, auf die er gerechnet hat; die Ent¬
fremdung, welche eintritt, halten wir für Undank, und
nun erst überlassen wir den Mann auf schnöde Weise
seinem Unstern und bereuen es zeitlebens. Statt, wie
wir uns vorgenommen, ruhig an der Arbeit zu sitzen,
laufen wir eines Morgens früh vom Hause weg, bleiben
den ganzen Tag fort und verfehlen einen entscheidenden
Besuch, der sich nie wiederholen wird. Wir lieben die
Wahrheit und verhehlen sie aus blödem Hochmuth, oder

lich nicht mit reumüthigen Betrachtungen über die be¬
gangenen dummen Streiche aufhalten kann. Denn die¬
ſelben ſcheinen in der perſpectiviſchen Verkürzung ſo dicht
hinter einander zu ſtehen, wie jene Meilenſteine, welche
der Reiter für die Leichenſteine eines Kirchhofes anſah,
als er auf ſeinem Zauberpferde an ihnen vorüberjagte.
Dennoch gibt es eine Art von Fehlern, Begehungen oder
Unterlaſſungen ſcheinbar ganz unbedeutender und harm¬
loſer Art, welche ihrer Folgen wegen zehnmal ſchwerer im
Gedächtniß haften bleiben, als die gröberen Vergehungen
und Verſäumniſſe, und während wir dieſe in unſerem
Sinne längſt genugſam bedauert und gebüßt haben, über¬
kommt uns immer wieder Reu' und Aerger, ſobald jene
in der Erinnerung aufleben. Man verzögert den Beſuch
bei einem Kranken, und er ſtirbt, ohne ein letztes Wort
geſagt zu haben, deſſen man bedurfte. Einem guten
Freunde haben wir Opfer gebracht und große Dienſte
geleiſtet; aber wir laſſen ihn mit einer kleinen Freund¬
lichkeit im Stiche, auf die er gerechnet hat; die Ent¬
fremdung, welche eintritt, halten wir für Undank, und
nun erſt überlaſſen wir den Mann auf ſchnöde Weiſe
ſeinem Unſtern und bereuen es zeitlebens. Statt, wie
wir uns vorgenommen, ruhig an der Arbeit zu ſitzen,
laufen wir eines Morgens früh vom Hauſe weg, bleiben
den ganzen Tag fort und verfehlen einen entſcheidenden
Beſuch, der ſich nie wiederholen wird. Wir lieben die
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[219/0229] lich nicht mit reumüthigen Betrachtungen über die be¬ gangenen dummen Streiche aufhalten kann. Denn die¬ ſelben ſcheinen in der perſpectiviſchen Verkürzung ſo dicht hinter einander zu ſtehen, wie jene Meilenſteine, welche der Reiter für die Leichenſteine eines Kirchhofes anſah, als er auf ſeinem Zauberpferde an ihnen vorüberjagte. Dennoch gibt es eine Art von Fehlern, Begehungen oder Unterlaſſungen ſcheinbar ganz unbedeutender und harm¬ loſer Art, welche ihrer Folgen wegen zehnmal ſchwerer im Gedächtniß haften bleiben, als die gröberen Vergehungen und Verſäumniſſe, und während wir dieſe in unſerem Sinne längſt genugſam bedauert und gebüßt haben, über¬ kommt uns immer wieder Reu' und Aerger, ſobald jene in der Erinnerung aufleben. Man verzögert den Beſuch bei einem Kranken, und er ſtirbt, ohne ein letztes Wort geſagt zu haben, deſſen man bedurfte. Einem guten Freunde haben wir Opfer gebracht und große Dienſte geleiſtet; aber wir laſſen ihn mit einer kleinen Freund¬ lichkeit im Stiche, auf die er gerechnet hat; die Ent¬ fremdung, welche eintritt, halten wir für Undank, und nun erſt überlaſſen wir den Mann auf ſchnöde Weiſe ſeinem Unſtern und bereuen es zeitlebens. Statt, wie wir uns vorgenommen, ruhig an der Arbeit zu ſitzen, laufen wir eines Morgens früh vom Hauſe weg, bleiben den ganzen Tag fort und verfehlen einen entſcheidenden Beſuch, der ſich nie wiederholen wird. Wir lieben die Wahrheit und verhehlen ſie aus blödem Hochmuth, oder

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/229>, abgerufen am 24.11.2024.