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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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Forst alter Eichen, deren Schatten das blendende Licht
der Felder und der Sommerwolken kräftig unterbrach;
ein klarer Bach floß überdies in diesem Schatten. Hier
hatte Hedwig ihren Aufenthalt; sie ordnete die Ernährung
der vielen Arbeitsleute, und Jedermann wollte hier speisen;
auch der alte Herr war herausgekommen. Und obgleich
die Gegenwart der Frau von Jedermann angenehm
empfunden wurde, war es doch, wie wenn sie nicht da
wäre. Nach verrichteter Mahlzeit blieb sie allein im
durchsichtigen Forste zurück, zwischen dessen Stämmen man
überall das Feld übersehen konnte. Sie nahm sich die
Zeit, rasch die Erntekränze zu besorgen, und Brandolf
leistete ihr Gesellschaft. Im einfachsten Sommerkleide,
nur ein dünnes Goldkettchen um den Hals, welches die
Uhr trug, schien sie eine Tochter der freien Luft zu sein
und sich allein des gegenwärtigen Augenblickes zu erfreuen,
ohne ein Wissen um Vergangenheit oder Zukunft.

"Bist Du auch schon so gewesen, wie jetzt in diesem
Augenblicke?" sagte Brandolf vertraulich, indem er ihrem
Thun und Lassen gemächlich zuschaute.

"Nein," antwortete sie, "ich habe die Erinnerung
nicht! Es ist mir Alles neu und darum so froh und kurz¬
weilig. Ich scheine mir überhaupt früher nicht gelebt
zu haben."

Auf der Rückreise nach dem Orte seiner jetzigen
Thätigkeit bekam Brandolf Regenwetter und sah sich
deshalb mehr als sonst veranlaßt, bei den am Wege

Forſt alter Eichen, deren Schatten das blendende Licht
der Felder und der Sommerwolken kräftig unterbrach;
ein klarer Bach floß überdies in dieſem Schatten. Hier
hatte Hedwig ihren Aufenthalt; ſie ordnete die Ernährung
der vielen Arbeitsleute, und Jedermann wollte hier ſpeiſen;
auch der alte Herr war herausgekommen. Und obgleich
die Gegenwart der Frau von Jedermann angenehm
empfunden wurde, war es doch, wie wenn ſie nicht da
wäre. Nach verrichteter Mahlzeit blieb ſie allein im
durchſichtigen Forſte zurück, zwiſchen deſſen Stämmen man
überall das Feld überſehen konnte. Sie nahm ſich die
Zeit, raſch die Erntekränze zu beſorgen, und Brandolf
leiſtete ihr Geſellſchaft. Im einfachſten Sommerkleide,
nur ein dünnes Goldkettchen um den Hals, welches die
Uhr trug, ſchien ſie eine Tochter der freien Luft zu ſein
und ſich allein des gegenwärtigen Augenblickes zu erfreuen,
ohne ein Wiſſen um Vergangenheit oder Zukunft.

„Biſt Du auch ſchon ſo geweſen, wie jetzt in dieſem
Augenblicke?“ ſagte Brandolf vertraulich, indem er ihrem
Thun und Laſſen gemächlich zuſchaute.

„Nein,“ antwortete ſie, „ich habe die Erinnerung
nicht! Es iſt mir Alles neu und darum ſo froh und kurz¬
weilig. Ich ſcheine mir überhaupt früher nicht gelebt
zu haben.“

Auf der Rückreiſe nach dem Orte ſeiner jetzigen
Thätigkeit bekam Brandolf Regenwetter und ſah ſich
deshalb mehr als ſonſt veranlaßt, bei den am Wege

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[203/0213] Forſt alter Eichen, deren Schatten das blendende Licht der Felder und der Sommerwolken kräftig unterbrach; ein klarer Bach floß überdies in dieſem Schatten. Hier hatte Hedwig ihren Aufenthalt; ſie ordnete die Ernährung der vielen Arbeitsleute, und Jedermann wollte hier ſpeiſen; auch der alte Herr war herausgekommen. Und obgleich die Gegenwart der Frau von Jedermann angenehm empfunden wurde, war es doch, wie wenn ſie nicht da wäre. Nach verrichteter Mahlzeit blieb ſie allein im durchſichtigen Forſte zurück, zwiſchen deſſen Stämmen man überall das Feld überſehen konnte. Sie nahm ſich die Zeit, raſch die Erntekränze zu beſorgen, und Brandolf leiſtete ihr Geſellſchaft. Im einfachſten Sommerkleide, nur ein dünnes Goldkettchen um den Hals, welches die Uhr trug, ſchien ſie eine Tochter der freien Luft zu ſein und ſich allein des gegenwärtigen Augenblickes zu erfreuen, ohne ein Wiſſen um Vergangenheit oder Zukunft. „Biſt Du auch ſchon ſo geweſen, wie jetzt in dieſem Augenblicke?“ ſagte Brandolf vertraulich, indem er ihrem Thun und Laſſen gemächlich zuſchaute. „Nein,“ antwortete ſie, „ich habe die Erinnerung nicht! Es iſt mir Alles neu und darum ſo froh und kurz¬ weilig. Ich ſcheine mir überhaupt früher nicht gelebt zu haben.“ Auf der Rückreiſe nach dem Orte ſeiner jetzigen Thätigkeit bekam Brandolf Regenwetter und ſah ſich deshalb mehr als ſonſt veranlaßt, bei den am Wege

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/213>, abgerufen am 24.11.2024.