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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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und zu hören. Er zog die bewußte schöne Klingelschnur,
aber es blieb todtenstill in der Wohnung. Besorgt schritt
er den Gang entlang bis er an die Küchenthüre gelangte,
und klopfte dort erst sanft, dann stärker, ohne daß ein
Lebenszeichen erfolgte. Er öffnete die Thüre, durchschritt
die stille Küche bis zu einer andern Thüre, welche in die
Wohnstube der Baronin führen mußte. Dort pochte er
wiederum behutsam und lauschte und horchte, hörte aber
nichts als ein ununterbrochenes heftiges Athmen und
zeitweiliges Stöhnen. Da öffnete er auch diese Thüre
und trat in das tiefe und düstere Zimmer, dessen kahle
Wände von der Kälte bis zum Tropfen feucht waren;
das nach dem Hofe hinausgehende Fenster bedeckte ein
einfacher weißer Vorhang sammt der dicken Stickerei
von Eisblumen. Auf einem elenden Bette, das aus
einem Strohsacke, einem groben Leintuche und einer
jämmerlich dünnen Decke bestand, lag die Baronin. Eine
schmale, feine Gestalt zeichnete sich durch die Decke hin¬
durch; der blasse Kopf lag auf einem ärmlichen Kissen
und das feuchte nußbraune Haar in verworrenen Strähnen
um das Gesicht herum, das mit offenen Augen an die
geweißte feuchte Decke starrte. Sie war mit einem dünnen
Flanelljäckchen angethan; die Arme und Hände, die auf der
Wolldecke lagen, schlotterten demnach von Kälte und Fieber
zugleich und ebenso zitterte der übrige Körper sichtbar
unter der Decke. Erschrocken trat Brandolf an das Bett
und rief die Kranke an; sie drehte wohl die Augen nach

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und zu hören. Er zog die bewußte ſchöne Klingelſchnur,
aber es blieb todtenſtill in der Wohnung. Beſorgt ſchritt
er den Gang entlang bis er an die Küchenthüre gelangte,
und klopfte dort erſt ſanft, dann ſtärker, ohne daß ein
Lebenszeichen erfolgte. Er öffnete die Thüre, durchſchritt
die ſtille Küche bis zu einer andern Thüre, welche in die
Wohnſtube der Baronin führen mußte. Dort pochte er
wiederum behutſam und lauſchte und horchte, hörte aber
nichts als ein ununterbrochenes heftiges Athmen und
zeitweiliges Stöhnen. Da öffnete er auch dieſe Thüre
und trat in das tiefe und düſtere Zimmer, deſſen kahle
Wände von der Kälte bis zum Tropfen feucht waren;
das nach dem Hofe hinausgehende Fenſter bedeckte ein
einfacher weißer Vorhang ſammt der dicken Stickerei
von Eisblumen. Auf einem elenden Bette, das aus
einem Strohſacke, einem groben Leintuche und einer
jämmerlich dünnen Decke beſtand, lag die Baronin. Eine
ſchmale, feine Geſtalt zeichnete ſich durch die Decke hin¬
durch; der blaſſe Kopf lag auf einem ärmlichen Kiſſen
und das feuchte nußbraune Haar in verworrenen Strähnen
um das Geſicht herum, das mit offenen Augen an die
geweißte feuchte Decke ſtarrte. Sie war mit einem dünnen
Flanelljäckchen angethan; die Arme und Hände, die auf der
Wolldecke lagen, ſchlotterten demnach von Kälte und Fieber
zugleich und ebenſo zitterte der übrige Körper ſichtbar
unter der Decke. Erſchrocken trat Brandolf an das Bett
und rief die Kranke an; ſie drehte wohl die Augen nach

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[179/0189] und zu hören. Er zog die bewußte ſchöne Klingelſchnur, aber es blieb todtenſtill in der Wohnung. Beſorgt ſchritt er den Gang entlang bis er an die Küchenthüre gelangte, und klopfte dort erſt ſanft, dann ſtärker, ohne daß ein Lebenszeichen erfolgte. Er öffnete die Thüre, durchſchritt die ſtille Küche bis zu einer andern Thüre, welche in die Wohnſtube der Baronin führen mußte. Dort pochte er wiederum behutſam und lauſchte und horchte, hörte aber nichts als ein ununterbrochenes heftiges Athmen und zeitweiliges Stöhnen. Da öffnete er auch dieſe Thüre und trat in das tiefe und düſtere Zimmer, deſſen kahle Wände von der Kälte bis zum Tropfen feucht waren; das nach dem Hofe hinausgehende Fenſter bedeckte ein einfacher weißer Vorhang ſammt der dicken Stickerei von Eisblumen. Auf einem elenden Bette, das aus einem Strohſacke, einem groben Leintuche und einer jämmerlich dünnen Decke beſtand, lag die Baronin. Eine ſchmale, feine Geſtalt zeichnete ſich durch die Decke hin¬ durch; der blaſſe Kopf lag auf einem ärmlichen Kiſſen und das feuchte nußbraune Haar in verworrenen Strähnen um das Geſicht herum, das mit offenen Augen an die geweißte feuchte Decke ſtarrte. Sie war mit einem dünnen Flanelljäckchen angethan; die Arme und Hände, die auf der Wolldecke lagen, ſchlotterten demnach von Kälte und Fieber zugleich und ebenſo zitterte der übrige Körper ſichtbar unter der Decke. Erſchrocken trat Brandolf an das Bett und rief die Kranke an; ſie drehte wohl die Augen nach 12*

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/189>, abgerufen am 24.11.2024.