Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

Bild:
<< vorherige Seite

Täglich einige Stunden auf dem Ministerium als
Freiwilliger arbeitend und im Uebrigen ein etwas wähliger
reicher Muttersohn, ließ er sich mit aller Gemächlichkeit
Raum, zum Entschlusse zu kommen. Doch wurde so eben
von Neuem in ihn gedrungen, da man ihn zu einer
bestimmten Function ausersehen hatte, die seinen Aufent¬
halt in einem entlegenen Landeskreise erforderte. Er
aber wollte den Abschluß seines Abenteuers in der Mieths¬
wohnung durchaus nicht fahren lassen, der Vater drang
ebenfalls auf Erfüllung seines Wunsches, und so lag er
eines Morgens länger im Bette als gewöhnlich und sann
über den Ausweg nach, den er zu ergreifen habe. Endlich
gelangte er zu der Meinung, daß er ja ganz füglich seine
juristischen Kenntnisse und amtlichen Beziehungen benutzen
könne, um im Stillen und mit aller Schonung über die
Vergangenheit und Gegenwart der Baronin die wünsch¬
baren Aufschlüsse zu sammeln und je nach Befund und
Umständen der verlassenen Frau eine bessere Lage zu
verschaffen, oder aber sie aus dem Sinne zu schlagen und
sein Unternehmen als ein verfehltes aufzugeben.

Mit diesem Vorsatz kleidete er sich an und eilte, seinen
Morgenkaffe zu nehmen, um sich ungesäumt auf den
Weg zu machen. Allein trotz der vorgerückten Stunde
war das Kaffebrett nicht an der gewohnten Stelle zu
erblicken; die Zimmer waren erkaltet und in keinem Ofen
Feuer gemacht. Verwundert machte er eine Thüre auf
und horchte auf den Flur hinaus; es war nichts zu sehen

Täglich einige Stunden auf dem Miniſterium als
Freiwilliger arbeitend und im Uebrigen ein etwas wähliger
reicher Mutterſohn, ließ er ſich mit aller Gemächlichkeit
Raum, zum Entſchluſſe zu kommen. Doch wurde ſo eben
von Neuem in ihn gedrungen, da man ihn zu einer
beſtimmten Function auserſehen hatte, die ſeinen Aufent¬
halt in einem entlegenen Landeskreiſe erforderte. Er
aber wollte den Abſchluß ſeines Abenteuers in der Mieths¬
wohnung durchaus nicht fahren laſſen, der Vater drang
ebenfalls auf Erfüllung ſeines Wunſches, und ſo lag er
eines Morgens länger im Bette als gewöhnlich und ſann
über den Ausweg nach, den er zu ergreifen habe. Endlich
gelangte er zu der Meinung, daß er ja ganz füglich ſeine
juriſtiſchen Kenntniſſe und amtlichen Beziehungen benutzen
könne, um im Stillen und mit aller Schonung über die
Vergangenheit und Gegenwart der Baronin die wünſch¬
baren Aufſchlüſſe zu ſammeln und je nach Befund und
Umſtänden der verlaſſenen Frau eine beſſere Lage zu
verſchaffen, oder aber ſie aus dem Sinne zu ſchlagen und
ſein Unternehmen als ein verfehltes aufzugeben.

Mit dieſem Vorſatz kleidete er ſich an und eilte, ſeinen
Morgenkaffe zu nehmen, um ſich ungeſäumt auf den
Weg zu machen. Allein trotz der vorgerückten Stunde
war das Kaffebrett nicht an der gewohnten Stelle zu
erblicken; die Zimmer waren erkaltet und in keinem Ofen
Feuer gemacht. Verwundert machte er eine Thüre auf
und horchte auf den Flur hinaus; es war nichts zu ſehen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0188" n="178"/>
          <p>Täglich einige Stunden auf dem Mini&#x017F;terium als<lb/>
Freiwilliger arbeitend und im Uebrigen ein etwas wähliger<lb/>
reicher Mutter&#x017F;ohn, ließ er &#x017F;ich mit aller Gemächlichkeit<lb/>
Raum, zum Ent&#x017F;chlu&#x017F;&#x017F;e zu kommen. Doch wurde &#x017F;o eben<lb/>
von Neuem in ihn gedrungen, da man ihn zu einer<lb/>
be&#x017F;timmten Function auser&#x017F;ehen hatte, die &#x017F;einen Aufent¬<lb/>
halt in einem entlegenen Landeskrei&#x017F;e erforderte. Er<lb/>
aber wollte den Ab&#x017F;chluß &#x017F;eines Abenteuers in der Mieths¬<lb/>
wohnung durchaus nicht fahren la&#x017F;&#x017F;en, der Vater drang<lb/>
ebenfalls auf Erfüllung &#x017F;eines Wun&#x017F;ches, und &#x017F;o lag er<lb/>
eines Morgens länger im Bette als gewöhnlich und &#x017F;ann<lb/>
über den Ausweg nach, den er zu ergreifen habe. Endlich<lb/>
gelangte er zu der Meinung, daß er ja ganz füglich &#x017F;eine<lb/>
juri&#x017F;ti&#x017F;chen Kenntni&#x017F;&#x017F;e und amtlichen Beziehungen benutzen<lb/>
könne, um im Stillen und mit aller Schonung über die<lb/>
Vergangenheit und Gegenwart der Baronin die wün&#x017F;ch¬<lb/>
baren Auf&#x017F;chlü&#x017F;&#x017F;e zu &#x017F;ammeln und je nach Befund und<lb/>
Um&#x017F;tänden der verla&#x017F;&#x017F;enen Frau eine be&#x017F;&#x017F;ere Lage zu<lb/>
ver&#x017F;chaffen, oder aber &#x017F;ie aus dem Sinne zu &#x017F;chlagen und<lb/>
&#x017F;ein Unternehmen als ein verfehltes aufzugeben.</p><lb/>
          <p>Mit die&#x017F;em Vor&#x017F;atz kleidete er &#x017F;ich an und eilte, &#x017F;einen<lb/>
Morgenkaffe zu nehmen, um &#x017F;ich unge&#x017F;äumt auf den<lb/>
Weg zu machen. Allein trotz der vorgerückten Stunde<lb/>
war das Kaffebrett nicht an der gewohnten Stelle zu<lb/>
erblicken; die Zimmer waren erkaltet und in keinem Ofen<lb/>
Feuer gemacht. Verwundert machte er eine Thüre auf<lb/>
und horchte auf den Flur hinaus; es war nichts zu &#x017F;ehen<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[178/0188] Täglich einige Stunden auf dem Miniſterium als Freiwilliger arbeitend und im Uebrigen ein etwas wähliger reicher Mutterſohn, ließ er ſich mit aller Gemächlichkeit Raum, zum Entſchluſſe zu kommen. Doch wurde ſo eben von Neuem in ihn gedrungen, da man ihn zu einer beſtimmten Function auserſehen hatte, die ſeinen Aufent¬ halt in einem entlegenen Landeskreiſe erforderte. Er aber wollte den Abſchluß ſeines Abenteuers in der Mieths¬ wohnung durchaus nicht fahren laſſen, der Vater drang ebenfalls auf Erfüllung ſeines Wunſches, und ſo lag er eines Morgens länger im Bette als gewöhnlich und ſann über den Ausweg nach, den er zu ergreifen habe. Endlich gelangte er zu der Meinung, daß er ja ganz füglich ſeine juriſtiſchen Kenntniſſe und amtlichen Beziehungen benutzen könne, um im Stillen und mit aller Schonung über die Vergangenheit und Gegenwart der Baronin die wünſch¬ baren Aufſchlüſſe zu ſammeln und je nach Befund und Umſtänden der verlaſſenen Frau eine beſſere Lage zu verſchaffen, oder aber ſie aus dem Sinne zu ſchlagen und ſein Unternehmen als ein verfehltes aufzugeben. Mit dieſem Vorſatz kleidete er ſich an und eilte, ſeinen Morgenkaffe zu nehmen, um ſich ungeſäumt auf den Weg zu machen. Allein trotz der vorgerückten Stunde war das Kaffebrett nicht an der gewohnten Stelle zu erblicken; die Zimmer waren erkaltet und in keinem Ofen Feuer gemacht. Verwundert machte er eine Thüre auf und horchte auf den Flur hinaus; es war nichts zu ſehen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/188
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/188>, abgerufen am 24.11.2024.