Er genoß im Hause nichts, als jeden Morgen einen Milchkaffe mit ein paar frischen Semmeln, von denen er jedoch meistens die eine liegen ließ. Da glaubte er denn eines Tages zu bemerken, daß Frau Hedwig von Lohausen, als sie das Geschirr wegholte, mit einer unbewachten Gier im Auge auf den Teller blickte, ob eine Semmel übrig sei, und mit einer unbezähmbaren Hast davon eilte. Das Auge hatte förmlich geleuchtet wie ein Sterngefunkel. Brandolf mußte sich an ein Fenster stellen, um seiner Gedanken Herr zu werden. Was ist der Mensch, sagte er sich, was sind Mann und Frau! Mit glühenden Augen müssen sie nach Nahrung lechzen, gleich den Thieren der Wildniß!
Er hatte diesen Blick noch nie gesehen. Aber was für ein schönes glänzendes Auge war es bei alledem gewesen!
Mit einer gewissen Grausamkeit setzte er nun seine Beobachtung fort; er steckte das eine Mal die übrig bleibende Semmel in die Tasche und nahm sie mit fort; das andere Mal ließ er ein halbes Brötchen liegen, und das dritte Mal alle beide, und stets glaubte er an dem Auf- und Niederschlagen der Augen, an dem rascheren oder langsameren Gang die nämliche Wirkung wahrzu¬ nehmen und überzeugte sich endlich, daß die arme Frau kaum viel Anderes genoß, als was von seinem Frühstücke übrig blieb, ein paar Schälchen Milch und eine halbe oder ganze Semmel.
Nun nahm die Angelegenheit eine andere Gestalt an;
Er genoß im Hauſe nichts, als jeden Morgen einen Milchkaffe mit ein paar friſchen Semmeln, von denen er jedoch meiſtens die eine liegen ließ. Da glaubte er denn eines Tages zu bemerken, daß Frau Hedwig von Lohauſen, als ſie das Geſchirr wegholte, mit einer unbewachten Gier im Auge auf den Teller blickte, ob eine Semmel übrig ſei, und mit einer unbezähmbaren Haſt davon eilte. Das Auge hatte förmlich geleuchtet wie ein Sterngefunkel. Brandolf mußte ſich an ein Fenſter ſtellen, um ſeiner Gedanken Herr zu werden. Was iſt der Menſch, ſagte er ſich, was ſind Mann und Frau! Mit glühenden Augen müſſen ſie nach Nahrung lechzen, gleich den Thieren der Wildniß!
Er hatte dieſen Blick noch nie geſehen. Aber was für ein ſchönes glänzendes Auge war es bei alledem geweſen!
Mit einer gewiſſen Grauſamkeit ſetzte er nun ſeine Beobachtung fort; er ſteckte das eine Mal die übrig bleibende Semmel in die Taſche und nahm ſie mit fort; das andere Mal ließ er ein halbes Brötchen liegen, und das dritte Mal alle beide, und ſtets glaubte er an dem Auf- und Niederſchlagen der Augen, an dem raſcheren oder langſameren Gang die nämliche Wirkung wahrzu¬ nehmen und überzeugte ſich endlich, daß die arme Frau kaum viel Anderes genoß, als was von ſeinem Frühſtücke übrig blieb, ein paar Schälchen Milch und eine halbe oder ganze Semmel.
Nun nahm die Angelegenheit eine andere Geſtalt an;
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0181"n="171"/><p>Er genoß im Hauſe nichts, als jeden Morgen einen<lb/>
Milchkaffe mit ein paar friſchen Semmeln, von denen<lb/>
er jedoch meiſtens die eine liegen ließ. Da glaubte er<lb/>
denn eines Tages zu bemerken, daß Frau Hedwig von<lb/>
Lohauſen, als ſie das Geſchirr wegholte, mit einer<lb/>
unbewachten Gier im Auge auf den Teller blickte, ob<lb/>
eine Semmel übrig ſei, und mit einer unbezähmbaren<lb/>
Haſt davon eilte. Das Auge hatte förmlich geleuchtet<lb/>
wie ein Sterngefunkel. Brandolf mußte ſich an ein<lb/>
Fenſter ſtellen, um ſeiner Gedanken Herr zu werden. Was<lb/>
iſt der Menſch, ſagte er ſich, was ſind Mann und Frau!<lb/>
Mit glühenden Augen müſſen ſie nach Nahrung lechzen,<lb/>
gleich den Thieren der Wildniß!</p><lb/><p>Er hatte dieſen Blick noch nie geſehen. Aber was für<lb/>
ein ſchönes glänzendes Auge war es bei alledem geweſen!</p><lb/><p>Mit einer gewiſſen Grauſamkeit ſetzte er nun ſeine<lb/>
Beobachtung fort; er ſteckte das eine Mal die übrig<lb/>
bleibende Semmel in die Taſche und nahm ſie mit fort;<lb/>
das andere Mal ließ er ein halbes Brötchen liegen, und<lb/>
das dritte Mal alle beide, und ſtets glaubte er an dem<lb/>
Auf- und Niederſchlagen der Augen, an dem raſcheren<lb/>
oder langſameren Gang die nämliche Wirkung wahrzu¬<lb/>
nehmen und überzeugte ſich endlich, daß die arme Frau<lb/>
kaum viel Anderes genoß, als was von ſeinem Frühſtücke<lb/>
übrig blieb, ein paar Schälchen Milch und eine halbe oder<lb/>
ganze Semmel.</p><lb/><p>Nun nahm die Angelegenheit eine andere Geſtalt an;<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[171/0181]
Er genoß im Hauſe nichts, als jeden Morgen einen
Milchkaffe mit ein paar friſchen Semmeln, von denen
er jedoch meiſtens die eine liegen ließ. Da glaubte er
denn eines Tages zu bemerken, daß Frau Hedwig von
Lohauſen, als ſie das Geſchirr wegholte, mit einer
unbewachten Gier im Auge auf den Teller blickte, ob
eine Semmel übrig ſei, und mit einer unbezähmbaren
Haſt davon eilte. Das Auge hatte förmlich geleuchtet
wie ein Sterngefunkel. Brandolf mußte ſich an ein
Fenſter ſtellen, um ſeiner Gedanken Herr zu werden. Was
iſt der Menſch, ſagte er ſich, was ſind Mann und Frau!
Mit glühenden Augen müſſen ſie nach Nahrung lechzen,
gleich den Thieren der Wildniß!
Er hatte dieſen Blick noch nie geſehen. Aber was für
ein ſchönes glänzendes Auge war es bei alledem geweſen!
Mit einer gewiſſen Grauſamkeit ſetzte er nun ſeine
Beobachtung fort; er ſteckte das eine Mal die übrig
bleibende Semmel in die Taſche und nahm ſie mit fort;
das andere Mal ließ er ein halbes Brötchen liegen, und
das dritte Mal alle beide, und ſtets glaubte er an dem
Auf- und Niederſchlagen der Augen, an dem raſcheren
oder langſameren Gang die nämliche Wirkung wahrzu¬
nehmen und überzeugte ſich endlich, daß die arme Frau
kaum viel Anderes genoß, als was von ſeinem Frühſtücke
übrig blieb, ein paar Schälchen Milch und eine halbe oder
ganze Semmel.
Nun nahm die Angelegenheit eine andere Geſtalt an;
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/181>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.