Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

Bild:
<< vorherige Seite

Existenz blühte, kam er immer zu spät, die Blume zu
brechen.

Daher ging er an der Pforte der Baronin wie
an einem verschlossenen Paradiese vorbei, in welches
einzudringen und mit dem hütenden Drachen zu streiten
er sich herzlich sehnte.

Als im September die Freundesfamilie sammt Kindern
und Dienstboten, mit Kisten und Koffern im Wagen
untergebracht war, um die Reise nach Italien anzutreten,
wo ein Winter verlebt werden sollte, als die schwerfällige
Maschine endlich unter den Seufzern der Haus- oder
hier der Reisefrau fortrollte, da hatte Brandolf, der den
Schlag zugemacht, im Hause eigentlich nichts mehr zu
thun, und er hätte füglich nach seiner eigenen Wohnung
gehen können. Er stieg aber wieder die Treppe hinauf,
klingelte bei der Baronin und wünschte ihre Zimmer zu
besehen. Sie erkannte ihn als denjenigen, der sie auf
der Treppe gestoßen, und als den täglichen Besucher der
Nachbarherrschaft. Mißtrauisch und mit großen Augen
sah sie ihn an, ohne ein Wort zu sprechen, und hielt die
Thüre so, als ob sie ihm dieselbe vor der Nase zuschlagen
wollte; doch konnte sie das nicht wagen und ließ ihn mit
knappen Worten eintreten.

Mit saurer Höflichkeit führte sie ihn zu den Zimmern;
sie waren höchst anständig und solid eingerichtet, und
Brandolf erklärte nach flüchtiger Besichtigung, die er
mehr zum Scheine vornahm, daß er die Wohnung miethe

Exiſtenz blühte, kam er immer zu ſpät, die Blume zu
brechen.

Daher ging er an der Pforte der Baronin wie
an einem verſchloſſenen Paradieſe vorbei, in welches
einzudringen und mit dem hütenden Drachen zu ſtreiten
er ſich herzlich ſehnte.

Als im September die Freundesfamilie ſammt Kindern
und Dienſtboten, mit Kiſten und Koffern im Wagen
untergebracht war, um die Reiſe nach Italien anzutreten,
wo ein Winter verlebt werden ſollte, als die ſchwerfällige
Maſchine endlich unter den Seufzern der Haus- oder
hier der Reiſefrau fortrollte, da hatte Brandolf, der den
Schlag zugemacht, im Hauſe eigentlich nichts mehr zu
thun, und er hätte füglich nach ſeiner eigenen Wohnung
gehen können. Er ſtieg aber wieder die Treppe hinauf,
klingelte bei der Baronin und wünſchte ihre Zimmer zu
beſehen. Sie erkannte ihn als denjenigen, der ſie auf
der Treppe geſtoßen, und als den täglichen Beſucher der
Nachbarherrſchaft. Mißtrauiſch und mit großen Augen
ſah ſie ihn an, ohne ein Wort zu ſprechen, und hielt die
Thüre ſo, als ob ſie ihm dieſelbe vor der Naſe zuſchlagen
wollte; doch konnte ſie das nicht wagen und ließ ihn mit
knappen Worten eintreten.

Mit ſaurer Höflichkeit führte ſie ihn zu den Zimmern;
ſie waren höchſt anſtändig und ſolid eingerichtet, und
Brandolf erklärte nach flüchtiger Beſichtigung, die er
mehr zum Scheine vornahm, daß er die Wohnung miethe

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0174" n="164"/>
Exi&#x017F;tenz blühte, kam er immer zu &#x017F;pät, die Blume zu<lb/>
brechen.</p><lb/>
          <p>Daher ging er an der Pforte der Baronin wie<lb/>
an einem ver&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enen Paradie&#x017F;e vorbei, in welches<lb/>
einzudringen und mit dem hütenden Drachen zu &#x017F;treiten<lb/>
er &#x017F;ich herzlich &#x017F;ehnte.</p><lb/>
          <p>Als im September die Freundesfamilie &#x017F;ammt Kindern<lb/>
und Dien&#x017F;tboten, mit Ki&#x017F;ten und Koffern im Wagen<lb/>
untergebracht war, um die Rei&#x017F;e nach Italien anzutreten,<lb/>
wo ein Winter verlebt werden &#x017F;ollte, als die &#x017F;chwerfällige<lb/>
Ma&#x017F;chine endlich unter den Seufzern der Haus- oder<lb/>
hier der Rei&#x017F;efrau fortrollte, da hatte Brandolf, der den<lb/>
Schlag zugemacht, im Hau&#x017F;e eigentlich nichts mehr zu<lb/>
thun, und er hätte füglich nach &#x017F;einer eigenen Wohnung<lb/>
gehen können. Er &#x017F;tieg aber wieder die Treppe hinauf,<lb/>
klingelte bei der Baronin und wün&#x017F;chte ihre Zimmer zu<lb/>
be&#x017F;ehen. Sie erkannte ihn als denjenigen, der &#x017F;ie auf<lb/>
der Treppe ge&#x017F;toßen, und als den täglichen Be&#x017F;ucher der<lb/>
Nachbarherr&#x017F;chaft. Mißtraui&#x017F;ch und mit großen Augen<lb/>
&#x017F;ah &#x017F;ie ihn an, ohne ein Wort zu &#x017F;prechen, und hielt die<lb/>
Thüre &#x017F;o, als ob &#x017F;ie ihm die&#x017F;elbe vor der Na&#x017F;e zu&#x017F;chlagen<lb/>
wollte; doch konnte &#x017F;ie das nicht wagen und ließ ihn mit<lb/>
knappen Worten eintreten.</p><lb/>
          <p>Mit &#x017F;aurer Höflichkeit führte &#x017F;ie ihn zu den Zimmern;<lb/>
&#x017F;ie waren höch&#x017F;t an&#x017F;tändig und &#x017F;olid eingerichtet, und<lb/>
Brandolf erklärte nach flüchtiger Be&#x017F;ichtigung, die er<lb/>
mehr zum Scheine vornahm, daß er die Wohnung miethe<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[164/0174] Exiſtenz blühte, kam er immer zu ſpät, die Blume zu brechen. Daher ging er an der Pforte der Baronin wie an einem verſchloſſenen Paradieſe vorbei, in welches einzudringen und mit dem hütenden Drachen zu ſtreiten er ſich herzlich ſehnte. Als im September die Freundesfamilie ſammt Kindern und Dienſtboten, mit Kiſten und Koffern im Wagen untergebracht war, um die Reiſe nach Italien anzutreten, wo ein Winter verlebt werden ſollte, als die ſchwerfällige Maſchine endlich unter den Seufzern der Haus- oder hier der Reiſefrau fortrollte, da hatte Brandolf, der den Schlag zugemacht, im Hauſe eigentlich nichts mehr zu thun, und er hätte füglich nach ſeiner eigenen Wohnung gehen können. Er ſtieg aber wieder die Treppe hinauf, klingelte bei der Baronin und wünſchte ihre Zimmer zu beſehen. Sie erkannte ihn als denjenigen, der ſie auf der Treppe geſtoßen, und als den täglichen Beſucher der Nachbarherrſchaft. Mißtrauiſch und mit großen Augen ſah ſie ihn an, ohne ein Wort zu ſprechen, und hielt die Thüre ſo, als ob ſie ihm dieſelbe vor der Naſe zuſchlagen wollte; doch konnte ſie das nicht wagen und ließ ihn mit knappen Worten eintreten. Mit ſaurer Höflichkeit führte ſie ihn zu den Zimmern; ſie waren höchſt anſtändig und ſolid eingerichtet, und Brandolf erklärte nach flüchtiger Beſichtigung, die er mehr zum Scheine vornahm, daß er die Wohnung miethe

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/174
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/174>, abgerufen am 24.11.2024.