Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

Bild:
<< vorherige Seite

war, des Weitern auf diesen Scherz oder Gedanken einzu¬
gehen, so schwieg er, kam aber für sich darauf zurück, als
er auf der Straße bemerkte, daß die Vermiethungsanzeige
eben wieder vor dem Hause hing.

Brandolf konnte gar nicht begreifen, wie man bösen
und ungerechten oder tollen Menschen gegenüber in
Verlegenheit gerathen und den Kürzern ziehen könne. So
gutmüthig und friedfertig er im Grunde war, empfand
er doch stets eine rechte Sehnsucht, sich mit schlimmen
Käuzen herumzuzanken und sie ihrer Tollheit zu über¬
führen. Wo er von erlittenem Unrecht hörte, wurde er
noch zorniger über die, welche es duldeten, als über die
Thäter, weil durch das ewige Nachgeben diese Unglücklichen
nie aus ihrer Verblendung herauskämen. Nur die offene
Gewalt ließ er unbekämpft, weil sie sich selbst brandmarke
und weiter keiner Beleuchtung bedürfe, um in ewiger
Jämmerlichkeit und Selbstzerstörung dazustehen. Er besaß
ein tiefes Gefühl für menschliche Zustände und vertraute
so sehr auf das Menschliche in jedem Menschen, daß er
sich vermaß, auch im Verstocktesten diesen Urquell zu wecken
oder wenigstens dem Sünder das Bewußtsein beizu¬
bringen, daß er durchschaut und von der Uebermacht des
Spottes umgarnt sei. Allein sei es, daß die Argen seine
sieghafte Sicherheit von Weitem ausspürten, sei es das
irdische Schicksal, welches uns das, was man wünscht,
selten erreichen läßt, Brandolf bekam fast nie so recht
wohlbegründete Händel, und wo eine ausgesuchte üble

11*

war, des Weitern auf dieſen Scherz oder Gedanken einzu¬
gehen, ſo ſchwieg er, kam aber für ſich darauf zurück, als
er auf der Straße bemerkte, daß die Vermiethungsanzeige
eben wieder vor dem Hauſe hing.

Brandolf konnte gar nicht begreifen, wie man böſen
und ungerechten oder tollen Menſchen gegenüber in
Verlegenheit gerathen und den Kürzern ziehen könne. So
gutmüthig und friedfertig er im Grunde war, empfand
er doch ſtets eine rechte Sehnſucht, ſich mit ſchlimmen
Käuzen herumzuzanken und ſie ihrer Tollheit zu über¬
führen. Wo er von erlittenem Unrecht hörte, wurde er
noch zorniger über die, welche es duldeten, als über die
Thäter, weil durch das ewige Nachgeben dieſe Unglücklichen
nie aus ihrer Verblendung herauskämen. Nur die offene
Gewalt ließ er unbekämpft, weil ſie ſich ſelbſt brandmarke
und weiter keiner Beleuchtung bedürfe, um in ewiger
Jämmerlichkeit und Selbſtzerſtörung dazuſtehen. Er beſaß
ein tiefes Gefühl für menſchliche Zuſtände und vertraute
ſo ſehr auf das Menſchliche in jedem Menſchen, daß er
ſich vermaß, auch im Verſtockteſten dieſen Urquell zu wecken
oder wenigſtens dem Sünder das Bewußtſein beizu¬
bringen, daß er durchſchaut und von der Uebermacht des
Spottes umgarnt ſei. Allein ſei es, daß die Argen ſeine
ſieghafte Sicherheit von Weitem ausſpürten, ſei es das
irdiſche Schickſal, welches uns das, was man wünſcht,
ſelten erreichen läßt, Brandolf bekam faſt nie ſo recht
wohlbegründete Händel, und wo eine ausgeſuchte üble

11*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0173" n="163"/>
war, des Weitern auf die&#x017F;en Scherz oder Gedanken einzu¬<lb/>
gehen, &#x017F;o &#x017F;chwieg er, kam aber für &#x017F;ich darauf zurück, als<lb/>
er auf der Straße bemerkte, daß die Vermiethungsanzeige<lb/>
eben wieder vor dem Hau&#x017F;e hing.</p><lb/>
          <p>Brandolf konnte gar nicht begreifen, wie man bö&#x017F;en<lb/>
und ungerechten oder tollen Men&#x017F;chen gegenüber in<lb/>
Verlegenheit gerathen und den Kürzern ziehen könne. So<lb/>
gutmüthig und friedfertig er im Grunde war, empfand<lb/>
er doch &#x017F;tets eine rechte Sehn&#x017F;ucht, &#x017F;ich mit &#x017F;chlimmen<lb/>
Käuzen herumzuzanken und &#x017F;ie ihrer Tollheit zu über¬<lb/>
führen. Wo er von erlittenem Unrecht hörte, wurde er<lb/>
noch zorniger über die, welche es duldeten, als über die<lb/>
Thäter, weil durch das ewige Nachgeben die&#x017F;e Unglücklichen<lb/>
nie aus ihrer Verblendung herauskämen. Nur die offene<lb/>
Gewalt ließ er unbekämpft, weil &#x017F;ie &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t brandmarke<lb/>
und weiter keiner Beleuchtung bedürfe, um in ewiger<lb/>
Jämmerlichkeit und Selb&#x017F;tzer&#x017F;törung dazu&#x017F;tehen. Er be&#x017F;<lb/>
ein tiefes Gefühl für men&#x017F;chliche Zu&#x017F;tände und vertraute<lb/>
&#x017F;o &#x017F;ehr auf das Men&#x017F;chliche in jedem Men&#x017F;chen, daß er<lb/>
&#x017F;ich vermaß, auch im Ver&#x017F;tockte&#x017F;ten die&#x017F;en Urquell zu wecken<lb/>
oder wenig&#x017F;tens dem Sünder das Bewußt&#x017F;ein beizu¬<lb/>
bringen, daß er durch&#x017F;chaut und von der Uebermacht des<lb/>
Spottes umgarnt &#x017F;ei. Allein &#x017F;ei es, daß die Argen &#x017F;eine<lb/>
&#x017F;ieghafte Sicherheit von Weitem aus&#x017F;pürten, &#x017F;ei es das<lb/>
irdi&#x017F;che Schick&#x017F;al, welches uns das, was man wün&#x017F;cht,<lb/>
&#x017F;elten erreichen läßt, Brandolf bekam fa&#x017F;t nie &#x017F;o recht<lb/>
wohlbegründete Händel, und wo eine ausge&#x017F;uchte üble<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">11*<lb/></fw>
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[163/0173] war, des Weitern auf dieſen Scherz oder Gedanken einzu¬ gehen, ſo ſchwieg er, kam aber für ſich darauf zurück, als er auf der Straße bemerkte, daß die Vermiethungsanzeige eben wieder vor dem Hauſe hing. Brandolf konnte gar nicht begreifen, wie man böſen und ungerechten oder tollen Menſchen gegenüber in Verlegenheit gerathen und den Kürzern ziehen könne. So gutmüthig und friedfertig er im Grunde war, empfand er doch ſtets eine rechte Sehnſucht, ſich mit ſchlimmen Käuzen herumzuzanken und ſie ihrer Tollheit zu über¬ führen. Wo er von erlittenem Unrecht hörte, wurde er noch zorniger über die, welche es duldeten, als über die Thäter, weil durch das ewige Nachgeben dieſe Unglücklichen nie aus ihrer Verblendung herauskämen. Nur die offene Gewalt ließ er unbekämpft, weil ſie ſich ſelbſt brandmarke und weiter keiner Beleuchtung bedürfe, um in ewiger Jämmerlichkeit und Selbſtzerſtörung dazuſtehen. Er beſaß ein tiefes Gefühl für menſchliche Zuſtände und vertraute ſo ſehr auf das Menſchliche in jedem Menſchen, daß er ſich vermaß, auch im Verſtockteſten dieſen Urquell zu wecken oder wenigſtens dem Sünder das Bewußtſein beizu¬ bringen, daß er durchſchaut und von der Uebermacht des Spottes umgarnt ſei. Allein ſei es, daß die Argen ſeine ſieghafte Sicherheit von Weitem ausſpürten, ſei es das irdiſche Schickſal, welches uns das, was man wünſcht, ſelten erreichen läßt, Brandolf bekam faſt nie ſo recht wohlbegründete Händel, und wo eine ausgeſuchte üble 11*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/173
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/173>, abgerufen am 27.11.2024.