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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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graben; hätte sie ahnen können, daß der Besuch des
Bruders gesehen und wie er ausgelegt worden, so würde
sie keine Rücksicht abgehalten haben, sich vom Verdacht zu
reinigen, und dann wäre Alles anders gekommen. Allein
das Schicksal wollte, daß die beiden Gatten, jedes mit
einem andern Geheimniß, dasselbe aus Vorsorge und
Schonung verbergend, an sich vorbei gingen und den ein¬
zigen Rettungsweg so verfehlten. Um auf den Brief
zurückzukommen, so schloß Regina mit der Bitte, sie in
dem Gewande zu begraben, in welchem sie einst als arme
Magd gedient habe. Möge Erwin dann dasjenige Kleid,
in welchem er sie in der schönen Zeit am liebsten gesehen,
zusammenfalten und es ihr im Sarge unter das Haupt
legen, so werde sie dankbar darauf ruhen.

Nach ihrem Begräbnisse war das erste, was er unter¬
nahm, die neue Versorgung der armen Angehörigen. Bei
dieser Gelegenheit erfuhr er, daß der hingerichtete Bruder
den erschlagenen Meister wirklich nicht ausgeplündert, in¬
dem der wahre Thäter, wegen anderer Verbrechen in
Untersuchung gerathen, auch dieses freiwillig gestanden
hatte. Erwin Altenauer hat sich bis jetzt nicht wieder
verheirathet.

Als Reinhart schwieg, blieb es ein Weilchen still; dann
sagte Lucia nachdenklich: "Ich könnte nun einwenden,
daß Ihre Geschichte mehr eine Frage des Schicksals als
der Bildung sei; doch will ich zugeben, daß eine schlimme
Abart der letzteren durch die Parzen, wie Sie die Träge¬

graben; hätte ſie ahnen können, daß der Beſuch des
Bruders geſehen und wie er ausgelegt worden, ſo würde
ſie keine Rückſicht abgehalten haben, ſich vom Verdacht zu
reinigen, und dann wäre Alles anders gekommen. Allein
das Schickſal wollte, daß die beiden Gatten, jedes mit
einem andern Geheimniß, daſſelbe aus Vorſorge und
Schonung verbergend, an ſich vorbei gingen und den ein¬
zigen Rettungsweg ſo verfehlten. Um auf den Brief
zurückzukommen, ſo ſchloß Regina mit der Bitte, ſie in
dem Gewande zu begraben, in welchem ſie einſt als arme
Magd gedient habe. Möge Erwin dann dasjenige Kleid,
in welchem er ſie in der ſchönen Zeit am liebſten geſehen,
zuſammenfalten und es ihr im Sarge unter das Haupt
legen, ſo werde ſie dankbar darauf ruhen.

Nach ihrem Begräbniſſe war das erſte, was er unter¬
nahm, die neue Verſorgung der armen Angehörigen. Bei
dieſer Gelegenheit erfuhr er, daß der hingerichtete Bruder
den erſchlagenen Meiſter wirklich nicht ausgeplündert, in¬
dem der wahre Thäter, wegen anderer Verbrechen in
Unterſuchung gerathen, auch dieſes freiwillig geſtanden
hatte. Erwin Altenauer hat ſich bis jetzt nicht wieder
verheirathet.

Als Reinhart ſchwieg, blieb es ein Weilchen ſtill; dann
ſagte Lucia nachdenklich: „Ich könnte nun einwenden,
daß Ihre Geſchichte mehr eine Frage des Schickſals als
der Bildung ſei; doch will ich zugeben, daß eine ſchlimme
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[152/0162] graben; hätte ſie ahnen können, daß der Beſuch des Bruders geſehen und wie er ausgelegt worden, ſo würde ſie keine Rückſicht abgehalten haben, ſich vom Verdacht zu reinigen, und dann wäre Alles anders gekommen. Allein das Schickſal wollte, daß die beiden Gatten, jedes mit einem andern Geheimniß, daſſelbe aus Vorſorge und Schonung verbergend, an ſich vorbei gingen und den ein¬ zigen Rettungsweg ſo verfehlten. Um auf den Brief zurückzukommen, ſo ſchloß Regina mit der Bitte, ſie in dem Gewande zu begraben, in welchem ſie einſt als arme Magd gedient habe. Möge Erwin dann dasjenige Kleid, in welchem er ſie in der ſchönen Zeit am liebſten geſehen, zuſammenfalten und es ihr im Sarge unter das Haupt legen, ſo werde ſie dankbar darauf ruhen. Nach ihrem Begräbniſſe war das erſte, was er unter¬ nahm, die neue Verſorgung der armen Angehörigen. Bei dieſer Gelegenheit erfuhr er, daß der hingerichtete Bruder den erſchlagenen Meiſter wirklich nicht ausgeplündert, in¬ dem der wahre Thäter, wegen anderer Verbrechen in Unterſuchung gerathen, auch dieſes freiwillig geſtanden hatte. Erwin Altenauer hat ſich bis jetzt nicht wieder verheirathet. Als Reinhart ſchwieg, blieb es ein Weilchen ſtill; dann ſagte Lucia nachdenklich: „Ich könnte nun einwenden, daß Ihre Geſchichte mehr eine Frage des Schickſals als der Bildung ſei; doch will ich zugeben, daß eine ſchlimme Abart der letzteren durch die Parzen, wie Sie die Träge¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/162>, abgerufen am 27.11.2024.