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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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Verbrecher, der zuerst auf den Platz gekommen, seines
Geldranzens beraubt, diese Schuld aber natürlich dem
Todtschläger aufgebürdet und derselbe als Raubmörder
verfolgt worden; so wenigstens hatte er ausgesagt und
ging nicht von seiner Aussage ab. Dieser Bruder nun,
und niemand anders, war es, der in jener Nacht bei
Reginen Zuflucht und Hülfe gesucht, nachdem er halb ver¬
hungert sich nur nächtlicher Weile herumgetrieben, überall
von den Häschern verfolgt. Er war schon in einem See¬
hafen gewesen und hatte seine Baarschaft von dem ver¬
kauften Pferde an einen Schiffsplatz gewendet, wurde aber
im letzten Augenblicke durch erneuerte Steckbriefe wieder
hinweggescheucht, in's Binnenland. In der alleräußersten
Noth hatte er der Schwester Wohnung umschlichen und
war bei ihr eingedrungen; sie hatte ihn mit einigen
Kleidungsstücken von ihrem Manne und mit Geld ver¬
sehen, damit er wiederum die Flucht über die See ver¬
suchen konnte. Aber von Stund' an war ihre Ruhe
dahin; denn sie war nur von dem einzigen Gedanken
besessen, daß sie als die Schwester eines Raubmörders
ihren Gatten Erwin in ein schmachvolles Dasein hinein
gezogen und des Elendes einer verdorbenen Familie theil¬
haftig gemacht habe. Und dazu kam ja immer noch der
Jammer über die Ihrigen und selbst den unglücklichen
Bruder.

Aber wie mußte sich der heimliche Jammer steigern,
als sie in einem Tageblatt, das mehr für die Dienstboten

Verbrecher, der zuerſt auf den Platz gekommen, ſeines
Geldranzens beraubt, dieſe Schuld aber natürlich dem
Todtſchläger aufgebürdet und derſelbe als Raubmörder
verfolgt worden; ſo wenigſtens hatte er ausgeſagt und
ging nicht von ſeiner Ausſage ab. Dieſer Bruder nun,
und niemand anders, war es, der in jener Nacht bei
Reginen Zuflucht und Hülfe geſucht, nachdem er halb ver¬
hungert ſich nur nächtlicher Weile herumgetrieben, überall
von den Häſchern verfolgt. Er war ſchon in einem See¬
hafen geweſen und hatte ſeine Baarſchaft von dem ver¬
kauften Pferde an einen Schiffsplatz gewendet, wurde aber
im letzten Augenblicke durch erneuerte Steckbriefe wieder
hinweggeſcheucht, in's Binnenland. In der alleräußerſten
Noth hatte er der Schweſter Wohnung umſchlichen und
war bei ihr eingedrungen; ſie hatte ihn mit einigen
Kleidungsſtücken von ihrem Manne und mit Geld ver¬
ſehen, damit er wiederum die Flucht über die See ver¬
ſuchen konnte. Aber von Stund' an war ihre Ruhe
dahin; denn ſie war nur von dem einzigen Gedanken
beſeſſen, daß ſie als die Schweſter eines Raubmörders
ihren Gatten Erwin in ein ſchmachvolles Daſein hinein
gezogen und des Elendes einer verdorbenen Familie theil¬
haftig gemacht habe. Und dazu kam ja immer noch der
Jammer über die Ihrigen und ſelbſt den unglücklichen
Bruder.

Aber wie mußte ſich der heimliche Jammer ſteigern,
als ſie in einem Tageblatt, das mehr für die Dienſtboten

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[150/0160] Verbrecher, der zuerſt auf den Platz gekommen, ſeines Geldranzens beraubt, dieſe Schuld aber natürlich dem Todtſchläger aufgebürdet und derſelbe als Raubmörder verfolgt worden; ſo wenigſtens hatte er ausgeſagt und ging nicht von ſeiner Ausſage ab. Dieſer Bruder nun, und niemand anders, war es, der in jener Nacht bei Reginen Zuflucht und Hülfe geſucht, nachdem er halb ver¬ hungert ſich nur nächtlicher Weile herumgetrieben, überall von den Häſchern verfolgt. Er war ſchon in einem See¬ hafen geweſen und hatte ſeine Baarſchaft von dem ver¬ kauften Pferde an einen Schiffsplatz gewendet, wurde aber im letzten Augenblicke durch erneuerte Steckbriefe wieder hinweggeſcheucht, in's Binnenland. In der alleräußerſten Noth hatte er der Schweſter Wohnung umſchlichen und war bei ihr eingedrungen; ſie hatte ihn mit einigen Kleidungsſtücken von ihrem Manne und mit Geld ver¬ ſehen, damit er wiederum die Flucht über die See ver¬ ſuchen konnte. Aber von Stund' an war ihre Ruhe dahin; denn ſie war nur von dem einzigen Gedanken beſeſſen, daß ſie als die Schweſter eines Raubmörders ihren Gatten Erwin in ein ſchmachvolles Daſein hinein gezogen und des Elendes einer verdorbenen Familie theil¬ haftig gemacht habe. Und dazu kam ja immer noch der Jammer über die Ihrigen und ſelbſt den unglücklichen Bruder. Aber wie mußte ſich der heimliche Jammer ſteigern, als ſie in einem Tageblatt, das mehr für die Dienſtboten

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/160>, abgerufen am 24.11.2024.