Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

Bild:
<< vorherige Seite

verschwunden und ein Teller mit Backwerk säuberlich ab¬
geräumt. Auf dem Tische sah ich den vertrockneten Ring
von einem überfüllten Weinglase, auf dem Boden einige
Krumen; der Teppich vor dem Sopha war von unruhigen
Füßen verschoben, von bestäubten Schuhen befleckt.

Als die Frau später zum Vorschein kam, war sie ver¬
ändert, wie Sie ja wol selbst gesehen haben. Nicht ein
Wort hat sie verlauten lassen, und ich habe bis jetzt noch
nicht gefragt und weiß nicht, was ich thun soll; ich weiß,
es ist ein fremder Mann über Nacht dagewesen und heim¬
lich wieder fort. Ich kann das Geheimniß nicht aufdecken
und doch dem braven Ehemanne gegenüber nicht die Mit¬
wisserin und Hehlerin eines Verbrechens sein! Und ich
kann das arme schöne Geschöpf auch nicht ohne Weiteres
zu Grunde richten. Was denken Sie nun hiervon, Herr
Reinhart, was zu thun sei?

Ich war wie erstarrt. Sorge und Entrüstung für
Erwin Altenauer, aber zugleich auch tiefes Mitleid mit
dem Weibe, wenn es wirklich schuldig sein sollte, durch¬
stürmten mich, als ich mich einigermaßen besann. Ich
dachte unwillkürlich an den Brasilianer und fragte die
ganz verstörte Haushälterin, wie denn der Fremde gekleidet
gewesen sei, ob fein oder gewöhnlich? Sie beharrte aber
darauf, daß sie nichts habe erkennen können; nur einen
breiten, tief in's Gesicht hängenden Schlapphut glaube sie
gesehen zu haben.

Ich grübelte und schwieg einige Zeit, während die

verſchwunden und ein Teller mit Backwerk ſäuberlich ab¬
geräumt. Auf dem Tiſche ſah ich den vertrockneten Ring
von einem überfüllten Weinglaſe, auf dem Boden einige
Krumen; der Teppich vor dem Sopha war von unruhigen
Füßen verſchoben, von beſtäubten Schuhen befleckt.

Als die Frau ſpäter zum Vorſchein kam, war ſie ver¬
ändert, wie Sie ja wol ſelbſt geſehen haben. Nicht ein
Wort hat ſie verlauten laſſen, und ich habe bis jetzt noch
nicht gefragt und weiß nicht, was ich thun ſoll; ich weiß,
es iſt ein fremder Mann über Nacht dageweſen und heim¬
lich wieder fort. Ich kann das Geheimniß nicht aufdecken
und doch dem braven Ehemanne gegenüber nicht die Mit¬
wiſſerin und Hehlerin eines Verbrechens ſein! Und ich
kann das arme ſchöne Geſchöpf auch nicht ohne Weiteres
zu Grunde richten. Was denken Sie nun hiervon, Herr
Reinhart, was zu thun ſei?

Ich war wie erſtarrt. Sorge und Entrüſtung für
Erwin Altenauer, aber zugleich auch tiefes Mitleid mit
dem Weibe, wenn es wirklich ſchuldig ſein ſollte, durch¬
ſtürmten mich, als ich mich einigermaßen beſann. Ich
dachte unwillkürlich an den Braſilianer und fragte die
ganz verſtörte Haushälterin, wie denn der Fremde gekleidet
geweſen ſei, ob fein oder gewöhnlich? Sie beharrte aber
darauf, daß ſie nichts habe erkennen können; nur einen
breiten, tief in's Geſicht hängenden Schlapphut glaube ſie
geſehen zu haben.

Ich grübelte und ſchwieg einige Zeit, während die

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0135" n="125"/>
ver&#x017F;chwunden und ein Teller mit Backwerk &#x017F;äuberlich ab¬<lb/>
geräumt. Auf dem Ti&#x017F;che &#x017F;ah ich den vertrockneten Ring<lb/>
von einem überfüllten Weingla&#x017F;e, auf dem Boden einige<lb/>
Krumen; der Teppich vor dem Sopha war von unruhigen<lb/>
Füßen ver&#x017F;choben, von be&#x017F;täubten Schuhen befleckt.</p><lb/>
          <p>Als die Frau &#x017F;päter zum Vor&#x017F;chein kam, war &#x017F;ie ver¬<lb/>
ändert, wie Sie ja wol &#x017F;elb&#x017F;t ge&#x017F;ehen haben. Nicht ein<lb/>
Wort hat &#x017F;ie verlauten la&#x017F;&#x017F;en, und ich habe bis jetzt noch<lb/>
nicht gefragt und weiß nicht, was ich thun &#x017F;oll; ich weiß,<lb/>
es i&#x017F;t ein fremder Mann über Nacht dagewe&#x017F;en und heim¬<lb/>
lich wieder fort. Ich kann das Geheimniß nicht aufdecken<lb/>
und doch dem braven Ehemanne gegenüber nicht die Mit¬<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;erin und Hehlerin eines Verbrechens &#x017F;ein! Und ich<lb/>
kann das arme &#x017F;chöne Ge&#x017F;chöpf auch nicht ohne Weiteres<lb/>
zu Grunde richten. Was denken Sie nun hiervon, Herr<lb/>
Reinhart, was zu thun &#x017F;ei?</p><lb/>
          <p>Ich war wie er&#x017F;tarrt. Sorge und Entrü&#x017F;tung für<lb/>
Erwin Altenauer, aber zugleich auch tiefes Mitleid mit<lb/>
dem Weibe, wenn es wirklich &#x017F;chuldig &#x017F;ein &#x017F;ollte, durch¬<lb/>
&#x017F;türmten mich, als ich mich einigermaßen be&#x017F;ann. Ich<lb/>
dachte unwillkürlich an den Bra&#x017F;ilianer und fragte die<lb/>
ganz ver&#x017F;törte Haushälterin, wie denn der Fremde gekleidet<lb/>
gewe&#x017F;en &#x017F;ei, ob fein oder gewöhnlich? Sie beharrte aber<lb/>
darauf, daß &#x017F;ie nichts habe erkennen können; nur einen<lb/>
breiten, tief in's Ge&#x017F;icht hängenden Schlapphut glaube &#x017F;ie<lb/>
ge&#x017F;ehen zu haben.</p><lb/>
          <p>Ich grübelte und &#x017F;chwieg einige Zeit, während die<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[125/0135] verſchwunden und ein Teller mit Backwerk ſäuberlich ab¬ geräumt. Auf dem Tiſche ſah ich den vertrockneten Ring von einem überfüllten Weinglaſe, auf dem Boden einige Krumen; der Teppich vor dem Sopha war von unruhigen Füßen verſchoben, von beſtäubten Schuhen befleckt. Als die Frau ſpäter zum Vorſchein kam, war ſie ver¬ ändert, wie Sie ja wol ſelbſt geſehen haben. Nicht ein Wort hat ſie verlauten laſſen, und ich habe bis jetzt noch nicht gefragt und weiß nicht, was ich thun ſoll; ich weiß, es iſt ein fremder Mann über Nacht dageweſen und heim¬ lich wieder fort. Ich kann das Geheimniß nicht aufdecken und doch dem braven Ehemanne gegenüber nicht die Mit¬ wiſſerin und Hehlerin eines Verbrechens ſein! Und ich kann das arme ſchöne Geſchöpf auch nicht ohne Weiteres zu Grunde richten. Was denken Sie nun hiervon, Herr Reinhart, was zu thun ſei? Ich war wie erſtarrt. Sorge und Entrüſtung für Erwin Altenauer, aber zugleich auch tiefes Mitleid mit dem Weibe, wenn es wirklich ſchuldig ſein ſollte, durch¬ ſtürmten mich, als ich mich einigermaßen beſann. Ich dachte unwillkürlich an den Braſilianer und fragte die ganz verſtörte Haushälterin, wie denn der Fremde gekleidet geweſen ſei, ob fein oder gewöhnlich? Sie beharrte aber darauf, daß ſie nichts habe erkennen können; nur einen breiten, tief in's Geſicht hängenden Schlapphut glaube ſie geſehen zu haben. Ich grübelte und ſchwieg einige Zeit, während die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/135
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/135>, abgerufen am 24.11.2024.