Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

Bild:
<< vorherige Seite
nächste Seite >>

Geburtsfest zu begehen. Die Amme des Kindleins, in
grünen, mit goldenen Vögeln gestickten Atlas gekleidet,
sei mit dem Kind auf dem Schooße auf einen silbernen
Wagen gesetzt worden, welchem hundert fremde Könige
hätten folgen müssen nebst unendlichen Würdenträgern,
Priestern und Kriegern. Und so sei der Zug unter dem
Schalle der Posaunen, Flöten und Pauken hinaus gegan¬
gen nach dem Lager. Als jedoch der Wagen über eine
Brücke gefahren sei, unter der sich eine trübe Lache
befunden, habe die Kröte das schöne Sumpfwasser gewittert
und sei vom Schooße der Amme hinunter gesprungen und
nicht mehr gesehen worden. Auf diese Art dachte die Sage
den Nero am allerärgsten zu brandmarken, und sie knüpfte
an das Märchen unmittelbar den Untergang des Tyrannen.

In der That hat die Wuth, sich die Attribute des
andern Geschlechts anzueignen, immer etwas Neronisches;
möge jedes Mal die Kröte in den Sumpf springen!

Die Malerin besaß mehr Männer- als Frauenkleider;
wenn sie jene auch nicht am Tage tragen durfte, so zog
sie dieselben um so häufiger des Nachts an und streifte
so in der Stadt herum, und es hieß, daß bald die Gazelle,
bald das Rothkäppchen oder das Bienchen trotz ihrer
allmälig eintretenden größeren Corpulenz sich zuweilen
in einen derartigen Anzug hineinzwängten und zu einem
geheimen Streifzug verleiten ließen, um als freie Männer
unter das Volk zu gehen und die unauslöschliche Neu¬
gierde zu befriedigen.

Geburtsfeſt zu begehen. Die Amme des Kindleins, in
grünen, mit goldenen Vögeln geſtickten Atlas gekleidet,
ſei mit dem Kind auf dem Schooße auf einen ſilbernen
Wagen geſetzt worden, welchem hundert fremde Könige
hätten folgen müſſen nebſt unendlichen Würdenträgern,
Prieſtern und Kriegern. Und ſo ſei der Zug unter dem
Schalle der Poſaunen, Flöten und Pauken hinaus gegan¬
gen nach dem Lager. Als jedoch der Wagen über eine
Brücke gefahren ſei, unter der ſich eine trübe Lache
befunden, habe die Kröte das ſchöne Sumpfwaſſer gewittert
und ſei vom Schooße der Amme hinunter geſprungen und
nicht mehr geſehen worden. Auf dieſe Art dachte die Sage
den Nero am allerärgſten zu brandmarken, und ſie knüpfte
an das Märchen unmittelbar den Untergang des Tyrannen.

In der That hat die Wuth, ſich die Attribute des
andern Geſchlechts anzueignen, immer etwas Neroniſches;
möge jedes Mal die Kröte in den Sumpf ſpringen!

Die Malerin beſaß mehr Männer- als Frauenkleider;
wenn ſie jene auch nicht am Tage tragen durfte, ſo zog
ſie dieſelben um ſo häufiger des Nachts an und ſtreifte
ſo in der Stadt herum, und es hieß, daß bald die Gazelle,
bald das Rothkäppchen oder das Bienchen trotz ihrer
allmälig eintretenden größeren Corpulenz ſich zuweilen
in einen derartigen Anzug hineinzwängten und zu einem
geheimen Streifzug verleiten ließen, um als freie Männer
unter das Volk zu gehen und die unauslöſchliche Neu¬
gierde zu befriedigen.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0116" n="106"/>
Geburtsfe&#x017F;t zu begehen. Die Amme des Kindleins, in<lb/>
grünen, mit goldenen Vögeln ge&#x017F;tickten Atlas gekleidet,<lb/>
&#x017F;ei mit dem Kind auf dem Schooße auf einen &#x017F;ilbernen<lb/>
Wagen ge&#x017F;etzt worden, welchem hundert fremde Könige<lb/>
hätten folgen mü&#x017F;&#x017F;en neb&#x017F;t unendlichen Würdenträgern,<lb/>
Prie&#x017F;tern und Kriegern. Und &#x017F;o &#x017F;ei der Zug unter dem<lb/>
Schalle der Po&#x017F;aunen, Flöten und Pauken hinaus gegan¬<lb/>
gen nach dem Lager. Als jedoch der Wagen über eine<lb/>
Brücke gefahren &#x017F;ei, unter der &#x017F;ich eine trübe Lache<lb/>
befunden, habe die Kröte das &#x017F;chöne Sumpfwa&#x017F;&#x017F;er gewittert<lb/>
und &#x017F;ei vom Schooße der Amme hinunter ge&#x017F;prungen und<lb/>
nicht mehr ge&#x017F;ehen worden. Auf die&#x017F;e Art dachte die Sage<lb/>
den Nero am allerärg&#x017F;ten zu brandmarken, und &#x017F;ie knüpfte<lb/>
an das Märchen unmittelbar den Untergang des Tyrannen.</p><lb/>
          <p>In der That hat die Wuth, &#x017F;ich die Attribute des<lb/>
andern Ge&#x017F;chlechts anzueignen, immer etwas Neroni&#x017F;ches;<lb/>
möge jedes Mal die Kröte in den Sumpf &#x017F;pringen!</p><lb/>
          <p>Die Malerin be&#x017F;aß mehr Männer- als Frauenkleider;<lb/>
wenn &#x017F;ie jene auch nicht am Tage tragen durfte, &#x017F;o zog<lb/>
&#x017F;ie die&#x017F;elben um &#x017F;o häufiger des Nachts an und &#x017F;treifte<lb/>
&#x017F;o in der Stadt herum, und es hieß, daß bald die Gazelle,<lb/>
bald das Rothkäppchen oder das Bienchen trotz ihrer<lb/>
allmälig eintretenden größeren Corpulenz &#x017F;ich zuweilen<lb/>
in einen derartigen Anzug hineinzwängten und zu einem<lb/>
geheimen Streifzug verleiten ließen, um als freie Männer<lb/>
unter das Volk zu gehen und die unauslö&#x017F;chliche Neu¬<lb/>
gierde zu befriedigen.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[106/0116] Geburtsfeſt zu begehen. Die Amme des Kindleins, in grünen, mit goldenen Vögeln geſtickten Atlas gekleidet, ſei mit dem Kind auf dem Schooße auf einen ſilbernen Wagen geſetzt worden, welchem hundert fremde Könige hätten folgen müſſen nebſt unendlichen Würdenträgern, Prieſtern und Kriegern. Und ſo ſei der Zug unter dem Schalle der Poſaunen, Flöten und Pauken hinaus gegan¬ gen nach dem Lager. Als jedoch der Wagen über eine Brücke gefahren ſei, unter der ſich eine trübe Lache befunden, habe die Kröte das ſchöne Sumpfwaſſer gewittert und ſei vom Schooße der Amme hinunter geſprungen und nicht mehr geſehen worden. Auf dieſe Art dachte die Sage den Nero am allerärgſten zu brandmarken, und ſie knüpfte an das Märchen unmittelbar den Untergang des Tyrannen. In der That hat die Wuth, ſich die Attribute des andern Geſchlechts anzueignen, immer etwas Neroniſches; möge jedes Mal die Kröte in den Sumpf ſpringen! Die Malerin beſaß mehr Männer- als Frauenkleider; wenn ſie jene auch nicht am Tage tragen durfte, ſo zog ſie dieſelben um ſo häufiger des Nachts an und ſtreifte ſo in der Stadt herum, und es hieß, daß bald die Gazelle, bald das Rothkäppchen oder das Bienchen trotz ihrer allmälig eintretenden größeren Corpulenz ſich zuweilen in einen derartigen Anzug hineinzwängten und zu einem geheimen Streifzug verleiten ließen, um als freie Männer unter das Volk zu gehen und die unauslöſchliche Neu¬ gierde zu befriedigen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/116
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/116>, abgerufen am 24.11.2024.