"daß ich am Ende unbesonnen handle und meine eigenen Lehrsätze in bewußter Materie untergrabe, indem ich die Geschichte fertig erzähle und deren Verlauf auseinander setze. Vielleicht werden Sie sagen, es sei nicht die rechte Bildung gewesen, an welcher das Schiff gescheitert. Am besten thu' ich wol, wenn ich Sie mit dem Schlusse verschone!"
"Nein, fahren Sie fort, es ist immer lehrreich, zu vernehmen, was die Herren hinsichtlich unseres Geschlechtes für wünschenswerth und erbaulich halten; ich fürchte, es ist zuweilen nicht viel tiefsinniger, als das Ideal, welches unsern Romanschreiberinnen bei Entwerfung ihrer Helden¬ gestalten oder ersten Liebhaber vorschwebt, wegen deren sie so oft ausgelacht werden."
"Sie vergessen, daß ich keine eigene Erfindung offen¬ bare, sondern über fremdes Schicksal berichte, das mich persönlich wenig berührt hat."
"Um so gewissenhafter halten Sie sich an die Wahr¬ heit, damit wir den Fall dann prüfen und reiflich berathen können!" sagte Lucia, und Reinhart erzählte weiter:
"Erwin Altenauer hatte seine Verheirathung so geheim betrieben, daß in unserer Stadt Niemand darum wußte; selbst die Herrschaft der ehemaligen Magd und die übrigen Hausgenossen ahnten Nichts von dem Vorgange, und Jedermann glaubte, er habe einfach seinen Aufenthalt bei uns beendigt und sei abgereist, wie man das an solchen Gästen ja gewohnt war. Etwa anderthalb Jahre später
„daß ich am Ende unbeſonnen handle und meine eigenen Lehrſätze in bewußter Materie untergrabe, indem ich die Geſchichte fertig erzähle und deren Verlauf auseinander ſetze. Vielleicht werden Sie ſagen, es ſei nicht die rechte Bildung geweſen, an welcher das Schiff geſcheitert. Am beſten thu' ich wol, wenn ich Sie mit dem Schluſſe verſchone!“
„Nein, fahren Sie fort, es iſt immer lehrreich, zu vernehmen, was die Herren hinſichtlich unſeres Geſchlechtes für wünſchenswerth und erbaulich halten; ich fürchte, es iſt zuweilen nicht viel tiefſinniger, als das Ideal, welches unſern Romanſchreiberinnen bei Entwerfung ihrer Helden¬ geſtalten oder erſten Liebhaber vorſchwebt, wegen deren ſie ſo oft ausgelacht werden.“
„Sie vergeſſen, daß ich keine eigene Erfindung offen¬ bare, ſondern über fremdes Schickſal berichte, das mich perſönlich wenig berührt hat.“
„Um ſo gewiſſenhafter halten Sie ſich an die Wahr¬ heit, damit wir den Fall dann prüfen und reiflich berathen können!“ ſagte Lucia, und Reinhart erzählte weiter:
„Erwin Altenauer hatte ſeine Verheirathung ſo geheim betrieben, daß in unſerer Stadt Niemand darum wußte; ſelbſt die Herrſchaft der ehemaligen Magd und die übrigen Hausgenoſſen ahnten Nichts von dem Vorgange, und Jedermann glaubte, er habe einfach ſeinen Aufenthalt bei uns beendigt und ſei abgereiſt, wie man das an ſolchen Gäſten ja gewohnt war. Etwa anderthalb Jahre ſpäter
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0104"n="94"/>„daß ich am Ende unbeſonnen handle und meine eigenen<lb/>
Lehrſätze in bewußter Materie untergrabe, indem ich die<lb/>
Geſchichte fertig erzähle und deren Verlauf auseinander<lb/>ſetze. Vielleicht werden Sie ſagen, es ſei nicht die rechte<lb/>
Bildung geweſen, an welcher das Schiff geſcheitert. Am<lb/>
beſten thu' ich wol, wenn ich Sie mit dem Schluſſe<lb/>
verſchone!“</p><lb/><p>„Nein, fahren Sie fort, es iſt immer lehrreich, zu<lb/>
vernehmen, was die Herren hinſichtlich unſeres Geſchlechtes<lb/>
für wünſchenswerth und erbaulich halten; ich fürchte, es<lb/>
iſt zuweilen nicht viel tiefſinniger, als das Ideal, welches<lb/>
unſern Romanſchreiberinnen bei Entwerfung ihrer Helden¬<lb/>
geſtalten oder erſten Liebhaber vorſchwebt, wegen deren<lb/>ſie ſo oft ausgelacht werden.“</p><lb/><p>„Sie vergeſſen, daß ich keine eigene Erfindung offen¬<lb/>
bare, ſondern über fremdes Schickſal berichte, das mich<lb/>
perſönlich wenig berührt hat.“</p><lb/><p>„Um ſo gewiſſenhafter halten Sie ſich an die Wahr¬<lb/>
heit, damit wir den Fall dann prüfen und reiflich berathen<lb/>
können!“ſagte Lucia, und Reinhart erzählte weiter:</p><lb/><p>„Erwin Altenauer hatte ſeine Verheirathung ſo geheim<lb/>
betrieben, daß in unſerer Stadt Niemand darum wußte;<lb/>ſelbſt die Herrſchaft der ehemaligen Magd und die übrigen<lb/>
Hausgenoſſen ahnten Nichts von dem Vorgange, und<lb/>
Jedermann glaubte, er habe einfach ſeinen Aufenthalt bei<lb/>
uns beendigt und ſei abgereiſt, wie man das an ſolchen<lb/>
Gäſten ja gewohnt war. Etwa anderthalb Jahre ſpäter<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[94/0104]
„daß ich am Ende unbeſonnen handle und meine eigenen
Lehrſätze in bewußter Materie untergrabe, indem ich die
Geſchichte fertig erzähle und deren Verlauf auseinander
ſetze. Vielleicht werden Sie ſagen, es ſei nicht die rechte
Bildung geweſen, an welcher das Schiff geſcheitert. Am
beſten thu' ich wol, wenn ich Sie mit dem Schluſſe
verſchone!“
„Nein, fahren Sie fort, es iſt immer lehrreich, zu
vernehmen, was die Herren hinſichtlich unſeres Geſchlechtes
für wünſchenswerth und erbaulich halten; ich fürchte, es
iſt zuweilen nicht viel tiefſinniger, als das Ideal, welches
unſern Romanſchreiberinnen bei Entwerfung ihrer Helden¬
geſtalten oder erſten Liebhaber vorſchwebt, wegen deren
ſie ſo oft ausgelacht werden.“
„Sie vergeſſen, daß ich keine eigene Erfindung offen¬
bare, ſondern über fremdes Schickſal berichte, das mich
perſönlich wenig berührt hat.“
„Um ſo gewiſſenhafter halten Sie ſich an die Wahr¬
heit, damit wir den Fall dann prüfen und reiflich berathen
können!“ ſagte Lucia, und Reinhart erzählte weiter:
„Erwin Altenauer hatte ſeine Verheirathung ſo geheim
betrieben, daß in unſerer Stadt Niemand darum wußte;
ſelbſt die Herrſchaft der ehemaligen Magd und die übrigen
Hausgenoſſen ahnten Nichts von dem Vorgange, und
Jedermann glaubte, er habe einfach ſeinen Aufenthalt bei
uns beendigt und ſei abgereiſt, wie man das an ſolchen
Gäſten ja gewohnt war. Etwa anderthalb Jahre ſpäter
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/104>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.