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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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ungewohnten kleinen Wohlstand, und die fernere Vorsorge
war ja nicht benommen. Ueberdies versprach Erwin,
seinen Einfluß dafür zu verwenden, daß die beiden im
Dienste stehenden Söhne, deren Entlassung nahe bevor¬
stand, ein gutes Unterkommen fänden, wo sie sich empor¬
bringen könnten, bis er besser für sie zu sorgen vermochte,
und was die Töchter betraf, so mischte er sich nicht in
deren Geschäfte, sondern empfahl dieselben in seinem
Innern der lieben Vorsehung. Kurz, es begab sich Alles
auf das Zweckdienlichste nach menschlicher Berechnung.
Regine sah zu und redete nicht ein Wort, auch nicht, als
Erwin sie in die Kutsche hob, mit welcher er sie unter
dem Segen der Eltern entführte. Erst als sie drin saß
und die Pferde auf der Landstraße trabten, fiel sie ihm
um den Hals und that sich nach den ausgestandenen
Leiden gütlich an seiner Freude, sie nun doch zu besitzen.

Er fuhr aber nicht in unsere Stadt zurück, sondern
nach der nächsten Bahnstation und bestieg dort mit Reginen
den Bahnzug. In einer der deutschen Städte, darin er
schon gelebt, kannte er eine würdige und verständige
Gelehrtenwittwe, welche genöthigt war, fremden Leuten
Wohnung und Kost zu geben. Er hatte selbst dort
gewohnt. Dieser wackeren Frau vertraute er sich an,
ließ Reginen für ein halbes Jahr bei ihr, damit sie gute
Kleider tragen lernte und die von der Arbeit rauhen
Hände weiß werden konnten. Dann trennte er sich, wenn
auch ungern, von der wie im Traume wandelnden Regine,

ungewohnten kleinen Wohlſtand, und die fernere Vorſorge
war ja nicht benommen. Ueberdies verſprach Erwin,
ſeinen Einfluß dafür zu verwenden, daß die beiden im
Dienſte ſtehenden Söhne, deren Entlaſſung nahe bevor¬
ſtand, ein gutes Unterkommen fänden, wo ſie ſich empor¬
bringen könnten, bis er beſſer für ſie zu ſorgen vermochte,
und was die Töchter betraf, ſo miſchte er ſich nicht in
deren Geſchäfte, ſondern empfahl dieſelben in ſeinem
Innern der lieben Vorſehung. Kurz, es begab ſich Alles
auf das Zweckdienlichſte nach menſchlicher Berechnung.
Regine ſah zu und redete nicht ein Wort, auch nicht, als
Erwin ſie in die Kutſche hob, mit welcher er ſie unter
dem Segen der Eltern entführte. Erſt als ſie drin ſaß
und die Pferde auf der Landſtraße trabten, fiel ſie ihm
um den Hals und that ſich nach den ausgeſtandenen
Leiden gütlich an ſeiner Freude, ſie nun doch zu beſitzen.

Er fuhr aber nicht in unſere Stadt zurück, ſondern
nach der nächſten Bahnſtation und beſtieg dort mit Reginen
den Bahnzug. In einer der deutſchen Städte, darin er
ſchon gelebt, kannte er eine würdige und verſtändige
Gelehrtenwittwe, welche genöthigt war, fremden Leuten
Wohnung und Koſt zu geben. Er hatte ſelbſt dort
gewohnt. Dieſer wackeren Frau vertraute er ſich an,
ließ Reginen für ein halbes Jahr bei ihr, damit ſie gute
Kleider tragen lernte und die von der Arbeit rauhen
Hände weiß werden konnten. Dann trennte er ſich, wenn
auch ungern, von der wie im Traume wandelnden Regine,

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[91/0101] ungewohnten kleinen Wohlſtand, und die fernere Vorſorge war ja nicht benommen. Ueberdies verſprach Erwin, ſeinen Einfluß dafür zu verwenden, daß die beiden im Dienſte ſtehenden Söhne, deren Entlaſſung nahe bevor¬ ſtand, ein gutes Unterkommen fänden, wo ſie ſich empor¬ bringen könnten, bis er beſſer für ſie zu ſorgen vermochte, und was die Töchter betraf, ſo miſchte er ſich nicht in deren Geſchäfte, ſondern empfahl dieſelben in ſeinem Innern der lieben Vorſehung. Kurz, es begab ſich Alles auf das Zweckdienlichſte nach menſchlicher Berechnung. Regine ſah zu und redete nicht ein Wort, auch nicht, als Erwin ſie in die Kutſche hob, mit welcher er ſie unter dem Segen der Eltern entführte. Erſt als ſie drin ſaß und die Pferde auf der Landſtraße trabten, fiel ſie ihm um den Hals und that ſich nach den ausgeſtandenen Leiden gütlich an ſeiner Freude, ſie nun doch zu beſitzen. Er fuhr aber nicht in unſere Stadt zurück, ſondern nach der nächſten Bahnſtation und beſtieg dort mit Reginen den Bahnzug. In einer der deutſchen Städte, darin er ſchon gelebt, kannte er eine würdige und verſtändige Gelehrtenwittwe, welche genöthigt war, fremden Leuten Wohnung und Koſt zu geben. Er hatte ſelbſt dort gewohnt. Dieſer wackeren Frau vertraute er ſich an, ließ Reginen für ein halbes Jahr bei ihr, damit ſie gute Kleider tragen lernte und die von der Arbeit rauhen Hände weiß werden konnten. Dann trennte er ſich, wenn auch ungern, von der wie im Traume wandelnden Regine,

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/101>, abgerufen am 24.11.2024.