Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

Bild:
<< vorherige Seite

einem halben Jahre oder mehr so emsig und
treu ausgearbeitet und vollendet. Sie lachte,
vor sich niedersehend und lauschend die Hand
unter das Kinn stützend, voll Zufriedenheit und
sah immer mehr einem seligen Kinde gleich, dem
man ein gewünschtes Zuckerzeug gegeben, als sie
hörte und vernahm, wie nicht einer ihrer Vor¬
züge und Reize, und nicht eines ihrer Worte
bei mir verloren gegangen war. Dann reichte
sie mir die Hand hin und sagte, freundlich er¬
röthend, doch mit zufriedener Sicherheit: "Ich
danke Ihnen sehr, mein Freund, für Ihre herz¬
liche Zuneigung! Glauben Sie, es schmerzt mich,
daß Sie um meinetwillen so lange besorgt und
eingenommen waren; aber Sie sind ein ganzer
Mann und ich muß Sie achten, da Sie einer
so schönen und tiefen Neigung fähig sind!"

Diese ruhige Rede fiel zwar wie ein Stück
Eis in mein heißes Blut; doch dachte ich so¬
gleich, es ihr wohl und von Herzen zu gönnen,
wenn sie jetzt die gefaßte und sich zierende Dame
machen wollte und mich in alles zu ergeben,
was sie auch vornehmen und welchen Ton sie
auch anschlagen würde.

einem halben Jahre oder mehr ſo emſig und
treu ausgearbeitet und vollendet. Sie lachte,
vor ſich niederſehend und lauſchend die Hand
unter das Kinn ſtützend, voll Zufriedenheit und
ſah immer mehr einem ſeligen Kinde gleich, dem
man ein gewünſchtes Zuckerzeug gegeben, als ſie
hörte und vernahm, wie nicht einer ihrer Vor¬
züge und Reize, und nicht eines ihrer Worte
bei mir verloren gegangen war. Dann reichte
ſie mir die Hand hin und ſagte, freundlich er¬
röthend, doch mit zufriedener Sicherheit: »Ich
danke Ihnen ſehr, mein Freund, für Ihre herz¬
liche Zuneigung! Glauben Sie, es ſchmerzt mich,
daß Sie um meinetwillen ſo lange beſorgt und
eingenommen waren; aber Sie ſind ein ganzer
Mann und ich muß Sie achten, da Sie einer
ſo ſchönen und tiefen Neigung fähig ſind!«

Dieſe ruhige Rede fiel zwar wie ein Stück
Eis in mein heißes Blut; doch dachte ich ſo¬
gleich, es ihr wohl und von Herzen zu gönnen,
wenn ſie jetzt die gefaßte und ſich zierende Dame
machen wollte und mich in alles zu ergeben,
was ſie auch vornehmen und welchen Ton ſie
auch anſchlagen würde.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0094" n="82"/>
einem halben Jahre oder mehr &#x017F;o em&#x017F;ig und<lb/>
treu ausgearbeitet und vollendet. Sie lachte,<lb/>
vor &#x017F;ich nieder&#x017F;ehend und lau&#x017F;chend die Hand<lb/>
unter das Kinn &#x017F;tützend, voll Zufriedenheit und<lb/>
&#x017F;ah immer mehr einem &#x017F;eligen Kinde gleich, dem<lb/>
man ein gewün&#x017F;chtes Zuckerzeug gegeben, als &#x017F;ie<lb/>
hörte und vernahm, wie nicht einer ihrer Vor¬<lb/>
züge und Reize, und nicht eines ihrer Worte<lb/>
bei mir verloren gegangen war. Dann reichte<lb/>
&#x017F;ie mir die Hand hin und &#x017F;agte, freundlich er¬<lb/>
röthend, doch mit zufriedener Sicherheit: »Ich<lb/>
danke Ihnen &#x017F;ehr, mein Freund, für Ihre herz¬<lb/>
liche Zuneigung! Glauben Sie, es &#x017F;chmerzt mich,<lb/>
daß Sie um meinetwillen &#x017F;o lange be&#x017F;orgt und<lb/>
eingenommen waren; aber Sie &#x017F;ind ein ganzer<lb/>
Mann und ich muß Sie achten, da Sie einer<lb/>
&#x017F;o &#x017F;chönen und tiefen Neigung fähig &#x017F;ind!«</p><lb/>
        <p>Die&#x017F;e ruhige Rede fiel zwar wie ein Stück<lb/>
Eis in mein heißes Blut; doch dachte ich &#x017F;<lb/>
gleich, es ihr wohl und von Herzen zu gönnen,<lb/>
wenn &#x017F;ie jetzt die gefaßte und &#x017F;ich zierende Dame<lb/>
machen wollte und mich in alles zu ergeben,<lb/>
was &#x017F;ie auch vornehmen und welchen Ton &#x017F;ie<lb/>
auch an&#x017F;chlagen würde.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[82/0094] einem halben Jahre oder mehr ſo emſig und treu ausgearbeitet und vollendet. Sie lachte, vor ſich niederſehend und lauſchend die Hand unter das Kinn ſtützend, voll Zufriedenheit und ſah immer mehr einem ſeligen Kinde gleich, dem man ein gewünſchtes Zuckerzeug gegeben, als ſie hörte und vernahm, wie nicht einer ihrer Vor¬ züge und Reize, und nicht eines ihrer Worte bei mir verloren gegangen war. Dann reichte ſie mir die Hand hin und ſagte, freundlich er¬ röthend, doch mit zufriedener Sicherheit: »Ich danke Ihnen ſehr, mein Freund, für Ihre herz¬ liche Zuneigung! Glauben Sie, es ſchmerzt mich, daß Sie um meinetwillen ſo lange beſorgt und eingenommen waren; aber Sie ſind ein ganzer Mann und ich muß Sie achten, da Sie einer ſo ſchönen und tiefen Neigung fähig ſind!« Dieſe ruhige Rede fiel zwar wie ein Stück Eis in mein heißes Blut; doch dachte ich ſo¬ gleich, es ihr wohl und von Herzen zu gönnen, wenn ſie jetzt die gefaßte und ſich zierende Dame machen wollte und mich in alles zu ergeben, was ſie auch vornehmen und welchen Ton ſie auch anſchlagen würde.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/94
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/94>, abgerufen am 25.11.2024.