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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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frech und reulos und schreiben gar noch ihre
Geschichte oder legen einen Kramladen an, wenn
sie ihre Strafe überstanden. Es giebt noch Leute
genug, die wähnen Hamlet zu sein und sie rüh¬
men sich dessen, ohne eine Ahnung zu haben von
den großen Herzensgründen eines wahren Hamlet.
Hier ist ein Blutmensch ohne Macbeths dämo¬
nische und doch wieder so menschliche Mannhaf¬
tigkeit und dort ein Richard der Dritte ohne
dessen Witz und Beredtsamkeit. Hier ist eine
Porzia, die nicht schön, dort eine, die nicht geist¬
reich, dort wieder eine die geistreich aber nicht
klug ist und wohl versteht, Leute unglücklich zu
machen, nicht aber sich selbst zu beglücken. Un¬
sere Shyloks möchten uns wohl das Fleisch aus¬
schneiden, aber sie werden nun und nimmer eine
Baarauslage zu diesem Behuf wagen, und unsere
Kaufleute von Venedig gerathen nicht wegen
eines lustigen Habenichts von Freund in Gefahr,
sondern wegen einfältigen Actienschwindels und
halten dann nicht im mindesten so schöne melan¬
cholische Reden, sondern machen ein ganz dummes
Gesicht dazu. Doch eigentlich sind, wie gesagt,
alle solche Leute wohl in der Welt, aber nicht

frech und reulos und ſchreiben gar noch ihre
Geſchichte oder legen einen Kramladen an, wenn
ſie ihre Strafe überſtanden. Es giebt noch Leute
genug, die wähnen Hamlet zu ſein und ſie rüh¬
men ſich deſſen, ohne eine Ahnung zu haben von
den großen Herzensgründen eines wahren Hamlet.
Hier iſt ein Blutmenſch ohne Macbeths dämo¬
niſche und doch wieder ſo menſchliche Mannhaf¬
tigkeit und dort ein Richard der Dritte ohne
deſſen Witz und Beredtſamkeit. Hier iſt eine
Porzia, die nicht ſchön, dort eine, die nicht geiſt¬
reich, dort wieder eine die geiſtreich aber nicht
klug iſt und wohl verſteht, Leute unglücklich zu
machen, nicht aber ſich ſelbſt zu beglücken. Un¬
ſere Shyloks möchten uns wohl das Fleiſch aus¬
ſchneiden, aber ſie werden nun und nimmer eine
Baarauslage zu dieſem Behuf wagen, und unſere
Kaufleute von Venedig gerathen nicht wegen
eines luſtigen Habenichts von Freund in Gefahr,
ſondern wegen einfältigen Actienſchwindels und
halten dann nicht im mindeſten ſo ſchöne melan¬
choliſche Reden, ſondern machen ein ganz dummes
Geſicht dazu. Doch eigentlich ſind, wie geſagt,
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[69/0081] frech und reulos und ſchreiben gar noch ihre Geſchichte oder legen einen Kramladen an, wenn ſie ihre Strafe überſtanden. Es giebt noch Leute genug, die wähnen Hamlet zu ſein und ſie rüh¬ men ſich deſſen, ohne eine Ahnung zu haben von den großen Herzensgründen eines wahren Hamlet. Hier iſt ein Blutmenſch ohne Macbeths dämo¬ niſche und doch wieder ſo menſchliche Mannhaf¬ tigkeit und dort ein Richard der Dritte ohne deſſen Witz und Beredtſamkeit. Hier iſt eine Porzia, die nicht ſchön, dort eine, die nicht geiſt¬ reich, dort wieder eine die geiſtreich aber nicht klug iſt und wohl verſteht, Leute unglücklich zu machen, nicht aber ſich ſelbſt zu beglücken. Un¬ ſere Shyloks möchten uns wohl das Fleiſch aus¬ ſchneiden, aber ſie werden nun und nimmer eine Baarauslage zu dieſem Behuf wagen, und unſere Kaufleute von Venedig gerathen nicht wegen eines luſtigen Habenichts von Freund in Gefahr, ſondern wegen einfältigen Actienſchwindels und halten dann nicht im mindeſten ſo ſchöne melan¬ choliſche Reden, ſondern machen ein ganz dummes Geſicht dazu. Doch eigentlich ſind, wie geſagt, alle ſolche Leute wohl in der Welt, aber nicht

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/81>, abgerufen am 25.11.2024.