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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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herige Jugend damit zugebracht, alles zu lernen,
was irgend wohl ansteht, und sie kannte sogar
fast alle neueren Sprachen, ohne daß man jedoch
viel davon bemerkte, so daß unwissende Männer
ihr gegenüber nicht leicht in jene schreckliche Ver¬
legenheit geriethen, weniger zu verstehen, als
ein müssiges Ziergewächs von Jungfräulein.
Überhaupt schien ein gesunder und wohldurchge¬
bildeter Sinn in ihr sich mehr dadurch zu zeigen,
daß sie die vorkommenden kleineren oder größeren
Dinge, Vorfälle oder Gegenstände durchaus zu¬
treffend beurtheilte und behandelte und dabei
waren ihre Gedanken und Worte so einfach lieb¬
lich und bestimmt, wie der Ton ihrer Stimme
und die Bewegungen ihres Körpers. Und über
alles dies war sie, wie gesagt, so kindlich, so
wenig durchtrieben, daß sie nicht im Stande war,
eine überlegte Partie Schach spielen zu lernen
und dennoch mit der fröhlichsten Geduld am
Brette saß, um sich von ihrem Vater unaufhör¬
lich überrumpeln zu lassen. So ward es Einem
sogleich heimathlich und wohl zu Muthe in ihrer
Nähe; man dachte unverweilt, diese wäre der
wahre Jakob unter den Weibern und keine Bes¬

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herige Jugend damit zugebracht, alles zu lernen,
was irgend wohl anſteht, und ſie kannte ſogar
faſt alle neueren Sprachen, ohne daß man jedoch
viel davon bemerkte, ſo daß unwiſſende Männer
ihr gegenüber nicht leicht in jene ſchreckliche Ver¬
legenheit geriethen, weniger zu verſtehen, als
ein müſſiges Ziergewächs von Jungfräulein.
Überhaupt ſchien ein geſunder und wohldurchge¬
bildeter Sinn in ihr ſich mehr dadurch zu zeigen,
daß ſie die vorkommenden kleineren oder größeren
Dinge, Vorfälle oder Gegenſtände durchaus zu¬
treffend beurtheilte und behandelte und dabei
waren ihre Gedanken und Worte ſo einfach lieb¬
lich und beſtimmt, wie der Ton ihrer Stimme
und die Bewegungen ihres Körpers. Und über
alles dies war ſie, wie geſagt, ſo kindlich, ſo
wenig durchtrieben, daß ſie nicht im Stande war,
eine überlegte Partie Schach ſpielen zu lernen
und dennoch mit der fröhlichſten Geduld am
Brette ſaß, um ſich von ihrem Vater unaufhör¬
lich überrumpeln zu laſſen. So ward es Einem
ſogleich heimathlich und wohl zu Muthe in ihrer
Nähe; man dachte unverweilt, dieſe wäre der
wahre Jakob unter den Weibern und keine Beſ¬

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[51/0063] herige Jugend damit zugebracht, alles zu lernen, was irgend wohl anſteht, und ſie kannte ſogar faſt alle neueren Sprachen, ohne daß man jedoch viel davon bemerkte, ſo daß unwiſſende Männer ihr gegenüber nicht leicht in jene ſchreckliche Ver¬ legenheit geriethen, weniger zu verſtehen, als ein müſſiges Ziergewächs von Jungfräulein. Überhaupt ſchien ein geſunder und wohldurchge¬ bildeter Sinn in ihr ſich mehr dadurch zu zeigen, daß ſie die vorkommenden kleineren oder größeren Dinge, Vorfälle oder Gegenſtände durchaus zu¬ treffend beurtheilte und behandelte und dabei waren ihre Gedanken und Worte ſo einfach lieb¬ lich und beſtimmt, wie der Ton ihrer Stimme und die Bewegungen ihres Körpers. Und über alles dies war ſie, wie geſagt, ſo kindlich, ſo wenig durchtrieben, daß ſie nicht im Stande war, eine überlegte Partie Schach ſpielen zu lernen und dennoch mit der fröhlichſten Geduld am Brette ſaß, um ſich von ihrem Vater unaufhör¬ lich überrumpeln zu laſſen. So ward es Einem ſogleich heimathlich und wohl zu Muthe in ihrer Nähe; man dachte unverweilt, dieſe wäre der wahre Jakob unter den Weibern und keine Beſ¬ 4*

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/63>, abgerufen am 23.11.2024.