seiner Leidenschaften von Neuem anzuheben. Stille und laute Stunden, süße Gefühle und zorniger Streit, anmuthiges Zwiegespräch, witziger Ge¬ dankenaustausch, Ränke und Schwänke der Liebe und Eifersucht, Liebkosungen und Raufereien, die Gewalt des Glückes und die Leiden des Un¬ sterns ließen den verliebten Spiegel nicht zu sich selbst kommen, und als die Scheibe des Mondes voll ward, war er von allen diesen Aufregungen und Leidenschaften so heruntergekommen, daß er jämmerlicher, magerer und zerzauster aussah, als je. Im selben Augenblicke rief ihm Pineiß aus einem Dachthürmchen: "Spiegelchen, Spie¬ gelchen! Wo bist Du? Komm doch ein Bischen nach Hause!"
Da schied Spiegel von der weißen Freun¬ din, welche zufrieden und kühl miauend ihrer Wege ging und wandte sich stolz seinem Henker zu. Dieser stieg in die Küche hinunter, raschelte mit dem Contract und sagte: "Komm Spiegel¬ chen, komm Spiegelchen!" und Spiegel folgte ihm und setzte sich in der Hexenküche trotzig vor den Meister hin in all' seiner Magerkeit und Zer¬ zaus'theit. Als Herr Pineiß erblickte, wie er so
ſeiner Leidenſchaften von Neuem anzuheben. Stille und laute Stunden, ſüße Gefühle und zorniger Streit, anmuthiges Zwiegeſpräch, witziger Ge¬ dankenaustauſch, Ränke und Schwänke der Liebe und Eiferſucht, Liebkoſungen und Raufereien, die Gewalt des Glückes und die Leiden des Un¬ ſterns ließen den verliebten Spiegel nicht zu ſich ſelbſt kommen, und als die Scheibe des Mondes voll ward, war er von allen dieſen Aufregungen und Leidenſchaften ſo heruntergekommen, daß er jämmerlicher, magerer und zerzauſter ausſah, als je. Im ſelben Augenblicke rief ihm Pineiß aus einem Dachthürmchen: »Spiegelchen, Spie¬ gelchen! Wo biſt Du? Komm doch ein Bischen nach Hauſe!«
Da ſchied Spiegel von der weißen Freun¬ din, welche zufrieden und kühl miauend ihrer Wege ging und wandte ſich ſtolz ſeinem Henker zu. Dieſer ſtieg in die Küche hinunter, raſchelte mit dem Contract und ſagte: »Komm Spiegel¬ chen, komm Spiegelchen!« und Spiegel folgte ihm und ſetzte ſich in der Hexenküche trotzig vor den Meiſter hin in all' ſeiner Magerkeit und Zer¬ zauſ'theit. Als Herr Pineiß erblickte, wie er ſo
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ſeiner Leidenſchaften von Neuem anzuheben. Stille
und laute Stunden, ſüße Gefühle und zorniger
Streit, anmuthiges Zwiegeſpräch, witziger Ge¬
dankenaustauſch, Ränke und Schwänke der Liebe
und Eiferſucht, Liebkoſungen und Raufereien, die
Gewalt des Glückes und die Leiden des Un¬
ſterns ließen den verliebten Spiegel nicht zu ſich
ſelbſt kommen, und als die Scheibe des Mondes
voll ward, war er von allen dieſen Aufregungen
und Leidenſchaften ſo heruntergekommen, daß er
jämmerlicher, magerer und zerzauſter ausſah,
als je. Im ſelben Augenblicke rief ihm Pineiß
aus einem Dachthürmchen: »Spiegelchen, Spie¬
gelchen! Wo biſt Du? Komm doch ein Bischen
nach Hauſe!«
Da ſchied Spiegel von der weißen Freun¬
din, welche zufrieden und kühl miauend ihrer
Wege ging und wandte ſich ſtolz ſeinem Henker
zu. Dieſer ſtieg in die Küche hinunter, raſchelte
mit dem Contract und ſagte: »Komm Spiegel¬
chen, komm Spiegelchen!« und Spiegel folgte ihm
und ſetzte ſich in der Hexenküche trotzig vor den
Meiſter hin in all' ſeiner Magerkeit und Zer¬
zauſ'theit. Als Herr Pineiß erblickte, wie er ſo
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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 469. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/481>, abgerufen am 25.11.2024.
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