Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

Bild:
<< vorherige Seite

Brief, von Thränen benetzt, worin er eine un¬
sägliche Betrübniß, Liebe, Verehrung und ewige
Treue aussprach, und in so hübschen und unbe¬
fangenen Worten, wie sie nur das wahre Ge¬
fühl findet, welches sich in eine Vexirgasse ver¬
rannt hat. So schöne Dinge hatte er gar nie
ausgesprochen, weil sie ihn niemals zu Worte
kommen ließ. Da sie aber keine Ahnung hatte
von dem verborgenen Schatze, so geschah es hier,
daß das Schicksal gerecht war und eine falsche
Schöne das nicht zu Gesicht bekam, was sie nicht
zu sehen verdiente. Auch war es ein Symbol,
daß sie es war, welche das thörichte, aber in¬
nige und aufrichtig gemeinte Wesen des Buch¬
binders nicht verstanden.

Schon lange hatte sie das Leben der drei
Kammmacher gelobt und dieselben drei gerechte
und verständige Männer genannt; denn sie hatte
sie wohl beobachtet. Als daher Dietrich der
Schwabe begann, sich länger bei ihr aufzuhalten,
wenn er sein Hemde brachte oder holte, und ihr
den Hof zu machen, benahm sie sich freundschaft¬
lich gegen ihn und hielt ihn mit trefflichen Ge¬
sprächen stundenlang bei sich fest, und Dietrich

Brief, von Thränen benetzt, worin er eine un¬
ſägliche Betrübniß, Liebe, Verehrung und ewige
Treue ausſprach, und in ſo hübſchen und unbe¬
fangenen Worten, wie ſie nur das wahre Ge¬
fühl findet, welches ſich in eine Vexirgaſſe ver¬
rannt hat. So ſchöne Dinge hatte er gar nie
ausgeſprochen, weil ſie ihn niemals zu Worte
kommen ließ. Da ſie aber keine Ahnung hatte
von dem verborgenen Schatze, ſo geſchah es hier,
daß das Schickſal gerecht war und eine falſche
Schöne das nicht zu Geſicht bekam, was ſie nicht
zu ſehen verdiente. Auch war es ein Symbol,
daß ſie es war, welche das thörichte, aber in¬
nige und aufrichtig gemeinte Weſen des Buch¬
binders nicht verſtanden.

Schon lange hatte ſie das Leben der drei
Kammmacher gelobt und dieſelben drei gerechte
und verſtändige Männer genannt; denn ſie hatte
ſie wohl beobachtet. Als daher Dietrich der
Schwabe begann, ſich länger bei ihr aufzuhalten,
wenn er ſein Hemde brachte oder holte, und ihr
den Hof zu machen, benahm ſie ſich freundſchaft¬
lich gegen ihn und hielt ihn mit trefflichen Ge¬
ſprächen ſtundenlang bei ſich feſt, und Dietrich

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0407" n="395"/>
Brief, von Thränen benetzt, worin er eine un¬<lb/>
&#x017F;ägliche Betrübniß, Liebe, Verehrung und ewige<lb/>
Treue aus&#x017F;prach, und in &#x017F;o hüb&#x017F;chen und unbe¬<lb/>
fangenen Worten, wie &#x017F;ie nur das wahre Ge¬<lb/>
fühl findet, welches &#x017F;ich in eine Vexirga&#x017F;&#x017F;e ver¬<lb/>
rannt hat. So &#x017F;chöne Dinge hatte er gar nie<lb/>
ausge&#x017F;prochen, weil &#x017F;ie ihn niemals zu Worte<lb/>
kommen ließ. Da &#x017F;ie aber keine Ahnung hatte<lb/>
von dem verborgenen Schatze, &#x017F;o ge&#x017F;chah es hier,<lb/>
daß das Schick&#x017F;al gerecht war und eine fal&#x017F;che<lb/>
Schöne das nicht zu Ge&#x017F;icht bekam, was &#x017F;ie nicht<lb/>
zu &#x017F;ehen verdiente. Auch war es ein Symbol,<lb/>
daß &#x017F;ie es war, welche das thörichte, aber in¬<lb/>
nige und aufrichtig gemeinte We&#x017F;en des Buch¬<lb/>
binders nicht ver&#x017F;tanden.</p><lb/>
        <p>Schon lange hatte &#x017F;ie das Leben der drei<lb/>
Kammmacher gelobt und die&#x017F;elben drei gerechte<lb/>
und ver&#x017F;tändige Männer genannt; denn &#x017F;ie hatte<lb/>
&#x017F;ie wohl beobachtet. Als daher Dietrich der<lb/>
Schwabe begann, &#x017F;ich länger bei ihr aufzuhalten,<lb/>
wenn er &#x017F;ein Hemde brachte oder holte, und ihr<lb/>
den Hof zu machen, benahm &#x017F;ie &#x017F;ich freund&#x017F;chaft¬<lb/>
lich gegen ihn und hielt ihn mit trefflichen Ge¬<lb/>
&#x017F;prächen &#x017F;tundenlang bei &#x017F;ich fe&#x017F;t, und Dietrich<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[395/0407] Brief, von Thränen benetzt, worin er eine un¬ ſägliche Betrübniß, Liebe, Verehrung und ewige Treue ausſprach, und in ſo hübſchen und unbe¬ fangenen Worten, wie ſie nur das wahre Ge¬ fühl findet, welches ſich in eine Vexirgaſſe ver¬ rannt hat. So ſchöne Dinge hatte er gar nie ausgeſprochen, weil ſie ihn niemals zu Worte kommen ließ. Da ſie aber keine Ahnung hatte von dem verborgenen Schatze, ſo geſchah es hier, daß das Schickſal gerecht war und eine falſche Schöne das nicht zu Geſicht bekam, was ſie nicht zu ſehen verdiente. Auch war es ein Symbol, daß ſie es war, welche das thörichte, aber in¬ nige und aufrichtig gemeinte Weſen des Buch¬ binders nicht verſtanden. Schon lange hatte ſie das Leben der drei Kammmacher gelobt und dieſelben drei gerechte und verſtändige Männer genannt; denn ſie hatte ſie wohl beobachtet. Als daher Dietrich der Schwabe begann, ſich länger bei ihr aufzuhalten, wenn er ſein Hemde brachte oder holte, und ihr den Hof zu machen, benahm ſie ſich freundſchaft¬ lich gegen ihn und hielt ihn mit trefflichen Ge¬ ſprächen ſtundenlang bei ſich feſt, und Dietrich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/407
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 395. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/407>, abgerufen am 27.11.2024.