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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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Dies war Züs Bünzlin, eine Tochter von acht
und zwanzig Jahren, welche mit ihrer Mutter,
der Wäscherin, zusammen lebte, aber über jenes
väterliche Erbtheil unbeschränkt herrschte. Sie
hatte den Brief in einer kleinen lackirten Lade
liegen, wo sie auch die Zinsen davon, ihren
Taufzettel, ihren Confirmationsschein und ein
bemaltes und vergoldetes Osterei bewahrte; fer¬
ner ein halbes Dutzend silberne Theelöffel, ein
Vaterunser mit Gold auf einen rothen durchsich¬
tigen Glasstoff gedruckt, den sie Menschenhaut
nannte, einen Kirschkern, in welchen das Leiden
Christi geschnitten war und eine Büchse aus
durchbrochenem und mit rothem Tafft unterlegten
Elfenbein, in welcher ein Spiegelchen war und
ein silberner Fingerhut; ferner war darin ein
anderer Kirschkern, in welchem ein winziges Ke¬
gelspiel klapperte, eine Nuß, worin eine kleine
Muttergottes hinter Glas lag, wenn man sie
öffnete, ein silbernes Herz, worin ein Riech¬
schwämmchen steckte, und eine Bonbonbüchse aus
Zitronenschaale, auf deren Deckel eine Erdbeere
gemalt war, und in welcher eine goldene Steck¬
nadel auf Baumwolle lag, die ein Vergißmein¬

Dies war Züs Bünzlin, eine Tochter von acht
und zwanzig Jahren, welche mit ihrer Mutter,
der Wäſcherin, zuſammen lebte, aber über jenes
väterliche Erbtheil unbeſchränkt herrſchte. Sie
hatte den Brief in einer kleinen lackirten Lade
liegen, wo ſie auch die Zinſen davon, ihren
Taufzettel, ihren Confirmationsſchein und ein
bemaltes und vergoldetes Oſterei bewahrte; fer¬
ner ein halbes Dutzend ſilberne Theelöffel, ein
Vaterunſer mit Gold auf einen rothen durchſich¬
tigen Glasſtoff gedruckt, den ſie Menſchenhaut
nannte, einen Kirſchkern, in welchen das Leiden
Chriſti geſchnitten war und eine Büchſe aus
durchbrochenem und mit rothem Tafft unterlegten
Elfenbein, in welcher ein Spiegelchen war und
ein ſilberner Fingerhut; ferner war darin ein
anderer Kirſchkern, in welchem ein winziges Ke¬
gelſpiel klapperte, eine Nuß, worin eine kleine
Muttergottes hinter Glas lag, wenn man ſie
öffnete, ein ſilbernes Herz, worin ein Riech¬
ſchwämmchen ſteckte, und eine Bonbonbüchſe aus
Zitronenſchaale, auf deren Deckel eine Erdbeere
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nadel auf Baumwolle lag, die ein Vergißmein¬

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[383/0395] Dies war Züs Bünzlin, eine Tochter von acht und zwanzig Jahren, welche mit ihrer Mutter, der Wäſcherin, zuſammen lebte, aber über jenes väterliche Erbtheil unbeſchränkt herrſchte. Sie hatte den Brief in einer kleinen lackirten Lade liegen, wo ſie auch die Zinſen davon, ihren Taufzettel, ihren Confirmationsſchein und ein bemaltes und vergoldetes Oſterei bewahrte; fer¬ ner ein halbes Dutzend ſilberne Theelöffel, ein Vaterunſer mit Gold auf einen rothen durchſich¬ tigen Glasſtoff gedruckt, den ſie Menſchenhaut nannte, einen Kirſchkern, in welchen das Leiden Chriſti geſchnitten war und eine Büchſe aus durchbrochenem und mit rothem Tafft unterlegten Elfenbein, in welcher ein Spiegelchen war und ein ſilberner Fingerhut; ferner war darin ein anderer Kirſchkern, in welchem ein winziges Ke¬ gelſpiel klapperte, eine Nuß, worin eine kleine Muttergottes hinter Glas lag, wenn man ſie öffnete, ein ſilbernes Herz, worin ein Riech¬ ſchwämmchen ſteckte, und eine Bonbonbüchſe aus Zitronenſchaale, auf deren Deckel eine Erdbeere gemalt war, und in welcher eine goldene Steck¬ nadel auf Baumwolle lag, die ein Vergißmein¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 383. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/395>, abgerufen am 28.11.2024.