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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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Zustande in Schaaren entfliehen und dem Zuge
der Zeit gehorchend, die neue Völkerwanderung
über die Meere mit wandern; oder welche ir¬
gendwo treuere Freunde gefunden haben, als da¬
heim, oder ihren eigensten Neigungen mehr ent¬
sprechende Verhältnisse oder durch irgend ein
schöneres menschliches Band festgebunden wurden.
Aber auch das neue Land ihres Wohlergehens
werden alle diese wenigstens lieben müssen, wo
sie eigentlich sind und auch da zur Noth einen
Menschen vorstellen. Aber Jobst wußte kaum
wo er war; die Einrichtungen und Gebräuche
der Schweizer waren ihm unverständlich, und er
sagte blos zuweilen: "Ja, ja, die Schweizer sind
politische Leute! Es ist gewißlich, wie ich glaube,
eine schöne Sache um die Politik, wenn man
Liebhaber davon ist! Ich für meinen Theil bin
kein Kenner davon, wo ich zu Haus bin, da ist
es nicht der Brauch gewesen." Die Sitten der
Seldwyler waren ihm zuwider und machten ihn
ängstlich, und wenn sie einen Tumult oder Zug
vorhatten, hockte er zitternd zuhinterst in der
Werkstatt und fürchtete Mord und Todtschlag.
Und dennoch war es sein einziges Denken und

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Zuſtande in Schaaren entfliehen und dem Zuge
der Zeit gehorchend, die neue Völkerwanderung
über die Meere mit wandern; oder welche ir¬
gendwo treuere Freunde gefunden haben, als da¬
heim, oder ihren eigenſten Neigungen mehr ent¬
ſprechende Verhältniſſe oder durch irgend ein
ſchöneres menſchliches Band feſtgebunden wurden.
Aber auch das neue Land ihres Wohlergehens
werden alle dieſe wenigſtens lieben müſſen, wo
ſie eigentlich ſind und auch da zur Noth einen
Menſchen vorſtellen. Aber Jobſt wußte kaum
wo er war; die Einrichtungen und Gebräuche
der Schweizer waren ihm unverſtändlich, und er
ſagte blos zuweilen: »Ja, ja, die Schweizer ſind
politiſche Leute! Es iſt gewißlich, wie ich glaube,
eine ſchöne Sache um die Politik, wenn man
Liebhaber davon iſt! Ich für meinen Theil bin
kein Kenner davon, wo ich zu Haus bin, da iſt
es nicht der Brauch geweſen.« Die Sitten der
Seldwyler waren ihm zuwider und machten ihn
ängſtlich, und wenn ſie einen Tumult oder Zug
vorhatten, hockte er zitternd zuhinterſt in der
Werkſtatt und fürchtete Mord und Todtſchlag.
Und dennoch war es ſein einziges Denken und

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[371/0383] Zuſtande in Schaaren entfliehen und dem Zuge der Zeit gehorchend, die neue Völkerwanderung über die Meere mit wandern; oder welche ir¬ gendwo treuere Freunde gefunden haben, als da¬ heim, oder ihren eigenſten Neigungen mehr ent¬ ſprechende Verhältniſſe oder durch irgend ein ſchöneres menſchliches Band feſtgebunden wurden. Aber auch das neue Land ihres Wohlergehens werden alle dieſe wenigſtens lieben müſſen, wo ſie eigentlich ſind und auch da zur Noth einen Menſchen vorſtellen. Aber Jobſt wußte kaum wo er war; die Einrichtungen und Gebräuche der Schweizer waren ihm unverſtändlich, und er ſagte blos zuweilen: »Ja, ja, die Schweizer ſind politiſche Leute! Es iſt gewißlich, wie ich glaube, eine ſchöne Sache um die Politik, wenn man Liebhaber davon iſt! Ich für meinen Theil bin kein Kenner davon, wo ich zu Haus bin, da iſt es nicht der Brauch geweſen.« Die Sitten der Seldwyler waren ihm zuwider und machten ihn ängſtlich, und wenn ſie einen Tumult oder Zug vorhatten, hockte er zitternd zuhinterſt in der Werkſtatt und fürchtete Mord und Todtſchlag. Und dennoch war es ſein einziges Denken und 24 *

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 371. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/383>, abgerufen am 29.11.2024.