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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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Erzählung keineswegs, die That zu beschönigen
und zu verherrlichen; denn höher als diese ver¬
zweifelte Hingebung wäre jedenfalls ein entsa¬
gendes Zusammenraffen und ein stilles Leben voll
treuer Mühe und Arbeit gewesen, und da diese die
mächtigsten Zauberer sind in Verbindung mit der
Zeit, so hätten sie vielleicht noch alles möglich ge¬
macht; denn sie verändern mit ihrem unmerklichen
Einflusse die Dinge, vernichten die Vorurtheile,
stellen die Ehre her und erneuen das Gewissen,
so daß die wahre Treue nie ohne Hoffnung ist.

Was aber die Verwilderung der Leidenschaf¬
ten angeht, so betrachten wir diesen und ähnliche
Vorfälle, welche alle Tage im niederen Volke
vorkommen, nur als ein weiteres Zeugniß, daß
dieses allein es ist, welches die Flamme der kräf¬
tigen Empfindung und Leidenschaft nährt und
wenigstens die Fähigkeit des Sterbens für eine
Herzenssache aufbewahrt, daß sie zum Troste der
Romanzendichter nicht aus der Welt verschwindet.
Das gleichgültige Eingehen und Lösen von "Ver¬
hältnissen" unter den gebildeten Ständen von
heute, das selbstsüchtige frivole Spiel mit den¬
selben, die große Leichtigkeit, mit welcher heut¬

Erzählung keineswegs, die That zu beſchönigen
und zu verherrlichen; denn höher als dieſe ver¬
zweifelte Hingebung wäre jedenfalls ein entſa¬
gendes Zuſammenraffen und ein ſtilles Leben voll
treuer Mühe und Arbeit geweſen, und da dieſe die
mächtigſten Zauberer ſind in Verbindung mit der
Zeit, ſo hätten ſie vielleicht noch alles möglich ge¬
macht; denn ſie verändern mit ihrem unmerklichen
Einfluſſe die Dinge, vernichten die Vorurtheile,
ſtellen die Ehre her und erneuen das Gewiſſen,
ſo daß die wahre Treue nie ohne Hoffnung iſt.

Was aber die Verwilderung der Leidenſchaf¬
ten angeht, ſo betrachten wir dieſen und ähnliche
Vorfälle, welche alle Tage im niederen Volke
vorkommen, nur als ein weiteres Zeugniß, daß
dieſes allein es iſt, welches die Flamme der kräf¬
tigen Empfindung und Leidenſchaft nährt und
wenigſtens die Fähigkeit des Sterbens für eine
Herzensſache aufbewahrt, daß ſie zum Troſte der
Romanzendichter nicht aus der Welt verſchwindet.
Das gleichgültige Eingehen und Löſen von »Ver¬
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[358/0370] Erzählung keineswegs, die That zu beſchönigen und zu verherrlichen; denn höher als dieſe ver¬ zweifelte Hingebung wäre jedenfalls ein entſa¬ gendes Zuſammenraffen und ein ſtilles Leben voll treuer Mühe und Arbeit geweſen, und da dieſe die mächtigſten Zauberer ſind in Verbindung mit der Zeit, ſo hätten ſie vielleicht noch alles möglich ge¬ macht; denn ſie verändern mit ihrem unmerklichen Einfluſſe die Dinge, vernichten die Vorurtheile, ſtellen die Ehre her und erneuen das Gewiſſen, ſo daß die wahre Treue nie ohne Hoffnung iſt. Was aber die Verwilderung der Leidenſchaf¬ ten angeht, ſo betrachten wir dieſen und ähnliche Vorfälle, welche alle Tage im niederen Volke vorkommen, nur als ein weiteres Zeugniß, daß dieſes allein es iſt, welches die Flamme der kräf¬ tigen Empfindung und Leidenſchaft nährt und wenigſtens die Fähigkeit des Sterbens für eine Herzensſache aufbewahrt, daß ſie zum Troſte der Romanzendichter nicht aus der Welt verſchwindet. Das gleichgültige Eingehen und Löſen von »Ver¬ hältniſſen« unter den gebildeten Ständen von heute, das ſelbſtſüchtige frivole Spiel mit den¬ ſelben, die große Leichtigkeit, mit welcher heut¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 358. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/370>, abgerufen am 28.11.2024.