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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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deutlich wie ein Traum und überdies reichlich
mit Weinreben übersponnen, und blaue reifende
Trauben hingen überall in dem Laube. Um das
Haus herum standen verwilderte Kastanienbäume,
und knorrige starke Rosenbüsche, auf eigene Hand
fortlebend, standen da und dort so wild herum,
wie anderswo die Hollunderbäume. Der Estrich
diente zum Tanzsaal; als Sali mit Vrenchen
daher kam, sahen sie schon von weitem die Paare
unter dem offenen Dache sich drehen, und rund
um das Haus zechten und lärmten eine Menge
lustiger Gäste. Vrenchen, welches andächtig und
wehmüthig sein Liebeshaus trug, glich einer hei¬
ligen Kirchenpatronin auf alten Bildern, welche
das Modell eines Domes oder Klosters auf der
Hand hält, so sie gestiftet; aber aus der from¬
men Stiftung, die ihm im Sinne lag, konnte
nichts werden. Als es aber die wilde Musik
hörte, welche vom Estrich ertönte, vergaß es sein
Leid und verlangte endlich nichts, als mit Sali
zu tanzen. Sie drängten sich durch die Gäste,
die vor dem Hause saßen und in der Stube,
verlumpte Leute aus Seldwyla, die eine billige
Landpartie machten, armes Volk von allen En¬

deutlich wie ein Traum und überdies reichlich
mit Weinreben überſponnen, und blaue reifende
Trauben hingen überall in dem Laube. Um das
Haus herum ſtanden verwilderte Kaſtanienbäume,
und knorrige ſtarke Roſenbüſche, auf eigene Hand
fortlebend, ſtanden da und dort ſo wild herum,
wie anderswo die Hollunderbäume. Der Eſtrich
diente zum Tanzſaal; als Sali mit Vrenchen
daher kam, ſahen ſie ſchon von weitem die Paare
unter dem offenen Dache ſich drehen, und rund
um das Haus zechten und lärmten eine Menge
luſtiger Gäſte. Vrenchen, welches andächtig und
wehmüthig ſein Liebeshaus trug, glich einer hei¬
ligen Kirchenpatronin auf alten Bildern, welche
das Modell eines Domes oder Kloſters auf der
Hand hält, ſo ſie geſtiftet; aber aus der from¬
men Stiftung, die ihm im Sinne lag, konnte
nichts werden. Als es aber die wilde Muſik
hörte, welche vom Eſtrich ertönte, vergaß es ſein
Leid und verlangte endlich nichts, als mit Sali
zu tanzen. Sie drängten ſich durch die Gäſte,
die vor dem Hauſe ſaßen und in der Stube,
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Landpartie machten, armes Volk von allen En¬

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[335/0347] deutlich wie ein Traum und überdies reichlich mit Weinreben überſponnen, und blaue reifende Trauben hingen überall in dem Laube. Um das Haus herum ſtanden verwilderte Kaſtanienbäume, und knorrige ſtarke Roſenbüſche, auf eigene Hand fortlebend, ſtanden da und dort ſo wild herum, wie anderswo die Hollunderbäume. Der Eſtrich diente zum Tanzſaal; als Sali mit Vrenchen daher kam, ſahen ſie ſchon von weitem die Paare unter dem offenen Dache ſich drehen, und rund um das Haus zechten und lärmten eine Menge luſtiger Gäſte. Vrenchen, welches andächtig und wehmüthig ſein Liebeshaus trug, glich einer hei¬ ligen Kirchenpatronin auf alten Bildern, welche das Modell eines Domes oder Kloſters auf der Hand hält, ſo ſie geſtiftet; aber aus der from¬ men Stiftung, die ihm im Sinne lag, konnte nichts werden. Als es aber die wilde Muſik hörte, welche vom Eſtrich ertönte, vergaß es ſein Leid und verlangte endlich nichts, als mit Sali zu tanzen. Sie drängten ſich durch die Gäſte, die vor dem Hauſe ſaßen und in der Stube, verlumpte Leute aus Seldwyla, die eine billige Landpartie machten, armes Volk von allen En¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 335. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/347>, abgerufen am 25.11.2024.