Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

Bild:
<< vorherige Seite

fallen!" Sali wollte nun in seiner Einfalt
jenes Spiel wieder erneuern und die glänzenden
Zahnperlen zählen; aber Vrenchen verschloß plötz¬
lich den rothen Mund, richtete sich auf und be¬
gann einen Kranz von Mohnrosen zu winden,
den es sich auf den Kopf setzte. Der Kranz
war voll und breit und gab der bräunlichen
Dirne ein fabelhaftes reizendes Ansehen, und
der arme Sali hielt in seinem Arm, was reiche
Leute theuer bezahlt hätten, wenn sie es nur
gemalt an ihren Wänden hätten sehen können.
Jetzt sprang sie aber empor und rief: "Himmel,
wie heiß ist es hier! Da sitzen wir wie die
Narren und lassen uns versengen! Komm, mein
Lieber! laß uns in's hohe Korn sitzen!" Sie
schlüpften hinein so geschickt und sachte, daß sie
kaum eine Spur zurückließen, und bauten sich
einen engen Kerker in den goldenen Ähren, die
ihnen hoch über den Kopf ragten, als sie drin
saßen, so daß sie nur den tiefblauen Himmel
über sich sahen und sonst nichts von der Welt.
Sie umhalsten sich und küßten sich unverweilt
und so lange bis sie einstweilen müde waren,
oder wie man es nennen will, wenn das Küssen

fallen!« Sali wollte nun in ſeiner Einfalt
jenes Spiel wieder erneuern und die glänzenden
Zahnperlen zählen; aber Vrenchen verſchloß plötz¬
lich den rothen Mund, richtete ſich auf und be¬
gann einen Kranz von Mohnroſen zu winden,
den es ſich auf den Kopf ſetzte. Der Kranz
war voll und breit und gab der bräunlichen
Dirne ein fabelhaftes reizendes Anſehen, und
der arme Sali hielt in ſeinem Arm, was reiche
Leute theuer bezahlt hätten, wenn ſie es nur
gemalt an ihren Wänden hätten ſehen können.
Jetzt ſprang ſie aber empor und rief: »Himmel,
wie heiß iſt es hier! Da ſitzen wir wie die
Narren und laſſen uns verſengen! Komm, mein
Lieber! laß uns in's hohe Korn ſitzen!« Sie
ſchlüpften hinein ſo geſchickt und ſachte, daß ſie
kaum eine Spur zurückließen, und bauten ſich
einen engen Kerker in den goldenen Ähren, die
ihnen hoch über den Kopf ragten, als ſie drin
ſaßen, ſo daß ſie nur den tiefblauen Himmel
über ſich ſahen und ſonſt nichts von der Welt.
Sie umhalſten ſich und küßten ſich unverweilt
und ſo lange bis ſie einſtweilen müde waren,
oder wie man es nennen will, wenn das Küſſen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0294" n="282"/>
fallen!« Sali wollte nun in &#x017F;einer Einfalt<lb/>
jenes Spiel wieder erneuern und die glänzenden<lb/>
Zahnperlen zählen; aber Vrenchen ver&#x017F;chloß plötz¬<lb/>
lich den rothen Mund, richtete &#x017F;ich auf und be¬<lb/>
gann einen Kranz von Mohnro&#x017F;en zu winden,<lb/>
den es &#x017F;ich auf den Kopf &#x017F;etzte. Der Kranz<lb/>
war voll und breit und gab der bräunlichen<lb/>
Dirne ein fabelhaftes reizendes An&#x017F;ehen, und<lb/>
der arme Sali hielt in &#x017F;einem Arm, was reiche<lb/>
Leute theuer bezahlt hätten, wenn &#x017F;ie es nur<lb/>
gemalt an ihren Wänden hätten &#x017F;ehen können.<lb/>
Jetzt &#x017F;prang &#x017F;ie aber empor und rief: »Himmel,<lb/>
wie heiß i&#x017F;t es hier! Da &#x017F;itzen wir wie die<lb/>
Narren und la&#x017F;&#x017F;en uns ver&#x017F;engen! Komm, mein<lb/>
Lieber! laß uns in's hohe Korn &#x017F;itzen!« Sie<lb/>
&#x017F;chlüpften hinein &#x017F;o ge&#x017F;chickt und &#x017F;achte, daß &#x017F;ie<lb/>
kaum eine Spur zurückließen, und bauten &#x017F;ich<lb/>
einen engen Kerker in den goldenen Ähren, die<lb/>
ihnen hoch über den Kopf ragten, als &#x017F;ie drin<lb/>
&#x017F;aßen, &#x017F;o daß &#x017F;ie nur den tiefblauen Himmel<lb/>
über &#x017F;ich &#x017F;ahen und &#x017F;on&#x017F;t nichts von der Welt.<lb/>
Sie umhal&#x017F;ten &#x017F;ich und küßten &#x017F;ich unverweilt<lb/>
und &#x017F;o lange bis &#x017F;ie ein&#x017F;tweilen müde waren,<lb/>
oder wie man es nennen will, wenn das Kü&#x017F;&#x017F;en<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[282/0294] fallen!« Sali wollte nun in ſeiner Einfalt jenes Spiel wieder erneuern und die glänzenden Zahnperlen zählen; aber Vrenchen verſchloß plötz¬ lich den rothen Mund, richtete ſich auf und be¬ gann einen Kranz von Mohnroſen zu winden, den es ſich auf den Kopf ſetzte. Der Kranz war voll und breit und gab der bräunlichen Dirne ein fabelhaftes reizendes Anſehen, und der arme Sali hielt in ſeinem Arm, was reiche Leute theuer bezahlt hätten, wenn ſie es nur gemalt an ihren Wänden hätten ſehen können. Jetzt ſprang ſie aber empor und rief: »Himmel, wie heiß iſt es hier! Da ſitzen wir wie die Narren und laſſen uns verſengen! Komm, mein Lieber! laß uns in's hohe Korn ſitzen!« Sie ſchlüpften hinein ſo geſchickt und ſachte, daß ſie kaum eine Spur zurückließen, und bauten ſich einen engen Kerker in den goldenen Ähren, die ihnen hoch über den Kopf ragten, als ſie drin ſaßen, ſo daß ſie nur den tiefblauen Himmel über ſich ſahen und ſonſt nichts von der Welt. Sie umhalſten ſich und küßten ſich unverweilt und ſo lange bis ſie einſtweilen müde waren, oder wie man es nennen will, wenn das Küſſen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/294
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 282. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/294>, abgerufen am 27.11.2024.