Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

Bild:
<< vorherige Seite

ges Ding. Viele blühen aber nur ein Mal und
auch diese Blüthe zerschlägt der Sturm, tödtet
der Frost oder ersäuft ein anhaltendes Regenwetter,
und nie wird eine Frucht daraus; viele blühen
in einer Wildniß oder in einem wüsten Sumpfe
in der Einsamkeit und es wird auch nichts
daraus, als zuweilen eine herbe verkrüppelte
Holzfrucht; denn alle guten Früchte wachsen in
großer Gesellschaft, die Ähre steht neben der
Ähre und die Traube hängt neben der Traube
tausendfältig. Aber Blumen sind es immer ge¬
wesen, ob etwas daraus geworden oder nicht
und ob sie gesehen oder ungesehen verblühten,
und der Frühling ist schön, was auch aus ihm
wird.

Sali fühlte sich an diesem Tage weder müs¬
sig, noch unglücklich, weder arm noch hoffnungs¬
los; vielmehr war er vollauf beschäftigt, sich
Vrenchens Gesicht und Gestalt vorzustellen, un¬
aufhörlich, eine Stunde wie die andere; über
dieser aufgeregten Thätigkeit aber verschwand ihm
der Gegenstand derselben fast vollständig, das
heißt er bildete sich endlich ein, nun doch nicht
zu wissen, wie Vrenchen recht genau aussehe,

ges Ding. Viele blühen aber nur ein Mal und
auch dieſe Blüthe zerſchlägt der Sturm, tödtet
der Froſt oder erſäuft ein anhaltendes Regenwetter,
und nie wird eine Frucht daraus; viele blühen
in einer Wildniß oder in einem wüſten Sumpfe
in der Einſamkeit und es wird auch nichts
daraus, als zuweilen eine herbe verkrüppelte
Holzfrucht; denn alle guten Früchte wachſen in
großer Geſellſchaft, die Ähre ſteht neben der
Ähre und die Traube hängt neben der Traube
tauſendfältig. Aber Blumen ſind es immer ge¬
weſen, ob etwas daraus geworden oder nicht
und ob ſie geſehen oder ungeſehen verblühten,
und der Frühling iſt ſchön, was auch aus ihm
wird.

Sali fühlte ſich an dieſem Tage weder müſ¬
ſig, noch unglücklich, weder arm noch hoffnungs¬
los; vielmehr war er vollauf beſchäftigt, ſich
Vrenchens Geſicht und Geſtalt vorzuſtellen, un¬
aufhörlich, eine Stunde wie die andere; über
dieſer aufgeregten Thätigkeit aber verſchwand ihm
der Gegenſtand derſelben faſt vollſtändig, das
heißt er bildete ſich endlich ein, nun doch nicht
zu wiſſen, wie Vrenchen recht genau ausſehe,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0276" n="264"/>
ges Ding. Viele blühen aber nur ein Mal und<lb/>
auch die&#x017F;e Blüthe zer&#x017F;chlägt der Sturm, tödtet<lb/>
der Fro&#x017F;t oder er&#x017F;äuft ein anhaltendes Regenwetter,<lb/>
und nie wird eine Frucht daraus; viele blühen<lb/>
in einer Wildniß oder in einem wü&#x017F;ten Sumpfe<lb/>
in der Ein&#x017F;amkeit und es wird auch nichts<lb/>
daraus, als zuweilen eine herbe verkrüppelte<lb/>
Holzfrucht; denn alle guten Früchte wach&#x017F;en in<lb/>
großer Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft, die Ähre &#x017F;teht neben der<lb/>
Ähre und die Traube hängt neben der Traube<lb/>
tau&#x017F;endfältig. Aber Blumen &#x017F;ind es immer ge¬<lb/>
we&#x017F;en, ob etwas daraus geworden oder nicht<lb/>
und ob &#x017F;ie ge&#x017F;ehen oder unge&#x017F;ehen verblühten,<lb/>
und der Frühling i&#x017F;t &#x017F;chön, was auch aus ihm<lb/>
wird.</p><lb/>
        <p>Sali fühlte &#x017F;ich an die&#x017F;em Tage weder mü&#x017F;¬<lb/>
&#x017F;ig, noch unglücklich, weder arm noch hoffnungs¬<lb/>
los; vielmehr war er vollauf be&#x017F;chäftigt, &#x017F;ich<lb/>
Vrenchens Ge&#x017F;icht und Ge&#x017F;talt vorzu&#x017F;tellen, un¬<lb/>
aufhörlich, eine Stunde wie die andere; über<lb/>
die&#x017F;er aufgeregten Thätigkeit aber ver&#x017F;chwand ihm<lb/>
der Gegen&#x017F;tand der&#x017F;elben fa&#x017F;t voll&#x017F;tändig, das<lb/>
heißt er bildete &#x017F;ich endlich ein, nun doch nicht<lb/>
zu wi&#x017F;&#x017F;en, wie Vrenchen recht genau aus&#x017F;ehe,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[264/0276] ges Ding. Viele blühen aber nur ein Mal und auch dieſe Blüthe zerſchlägt der Sturm, tödtet der Froſt oder erſäuft ein anhaltendes Regenwetter, und nie wird eine Frucht daraus; viele blühen in einer Wildniß oder in einem wüſten Sumpfe in der Einſamkeit und es wird auch nichts daraus, als zuweilen eine herbe verkrüppelte Holzfrucht; denn alle guten Früchte wachſen in großer Geſellſchaft, die Ähre ſteht neben der Ähre und die Traube hängt neben der Traube tauſendfältig. Aber Blumen ſind es immer ge¬ weſen, ob etwas daraus geworden oder nicht und ob ſie geſehen oder ungeſehen verblühten, und der Frühling iſt ſchön, was auch aus ihm wird. Sali fühlte ſich an dieſem Tage weder müſ¬ ſig, noch unglücklich, weder arm noch hoffnungs¬ los; vielmehr war er vollauf beſchäftigt, ſich Vrenchens Geſicht und Geſtalt vorzuſtellen, un¬ aufhörlich, eine Stunde wie die andere; über dieſer aufgeregten Thätigkeit aber verſchwand ihm der Gegenſtand derſelben faſt vollſtändig, das heißt er bildete ſich endlich ein, nun doch nicht zu wiſſen, wie Vrenchen recht genau ausſehe,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/276
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 264. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/276>, abgerufen am 27.11.2024.