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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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murrte weit seltener als sein Bruder. Es besaß
eine helle Stimme und sang gleich einer Nach¬
tigall; doch obgleich es mit alle diesem freund¬
licher und lieblicher war, als der Knabe, so gab
die Mutter doch diesem scheinbar den Vorzug
und begünstigte ihn in seinem Wesen, weil sie
Erbarmen mit ihm hatte, da er nichts lernen
und es ihm wahrscheinlicher Weise einmal recht
schlecht ergehen konnte, während nach ihrer An¬
sicht das Mädchen nicht viel brauchte und schon
deshalb unterkommen würde.

Dieses mußte daher unaufhörlich spinnen,
damit das Söhnlein desto mehr zu essen bekäme
und recht mit Muße sein einstiges Unheil erwar¬
ten könne. Der Junge nahm dies ohne Wei¬
teres an und geberdete sich wie ein kleiner In¬
dianer, der die Weiber arbeiten läßt, und auch
seine Schwester empfand hiervon keinen Verdruß
und glaubte das müsse so sein.

Die einzige Entschädigung und Rache nahm
sie sich durch eine allerdings arge Unzukömmlich¬
keit, welche sie sich beim Essen mit List oder
Gewalt immer wieder erlaubte. Die Mutter
kochte nämlich jeden Mittag einen dicken Kartof¬

murrte weit ſeltener als ſein Bruder. Es beſaß
eine helle Stimme und ſang gleich einer Nach¬
tigall; doch obgleich es mit alle dieſem freund¬
licher und lieblicher war, als der Knabe, ſo gab
die Mutter doch dieſem ſcheinbar den Vorzug
und begünſtigte ihn in ſeinem Weſen, weil ſie
Erbarmen mit ihm hatte, da er nichts lernen
und es ihm wahrſcheinlicher Weiſe einmal recht
ſchlecht ergehen konnte, während nach ihrer An¬
ſicht das Mädchen nicht viel brauchte und ſchon
deshalb unterkommen würde.

Dieſes mußte daher unaufhörlich ſpinnen,
damit das Söhnlein deſto mehr zu eſſen bekäme
und recht mit Muße ſein einſtiges Unheil erwar¬
ten könne. Der Junge nahm dies ohne Wei¬
teres an und geberdete ſich wie ein kleiner In¬
dianer, der die Weiber arbeiten läßt, und auch
ſeine Schweſter empfand hiervon keinen Verdruß
und glaubte das müſſe ſo ſein.

Die einzige Entſchädigung und Rache nahm
ſie ſich durch eine allerdings arge Unzukömmlich¬
keit, welche ſie ſich beim Eſſen mit Liſt oder
Gewalt immer wieder erlaubte. Die Mutter
kochte nämlich jeden Mittag einen dicken Kartof¬

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[13/0025] murrte weit ſeltener als ſein Bruder. Es beſaß eine helle Stimme und ſang gleich einer Nach¬ tigall; doch obgleich es mit alle dieſem freund¬ licher und lieblicher war, als der Knabe, ſo gab die Mutter doch dieſem ſcheinbar den Vorzug und begünſtigte ihn in ſeinem Weſen, weil ſie Erbarmen mit ihm hatte, da er nichts lernen und es ihm wahrſcheinlicher Weiſe einmal recht ſchlecht ergehen konnte, während nach ihrer An¬ ſicht das Mädchen nicht viel brauchte und ſchon deshalb unterkommen würde. Dieſes mußte daher unaufhörlich ſpinnen, damit das Söhnlein deſto mehr zu eſſen bekäme und recht mit Muße ſein einſtiges Unheil erwar¬ ten könne. Der Junge nahm dies ohne Wei¬ teres an und geberdete ſich wie ein kleiner In¬ dianer, der die Weiber arbeiten läßt, und auch ſeine Schweſter empfand hiervon keinen Verdruß und glaubte das müſſe ſo ſein. Die einzige Entſchädigung und Rache nahm ſie ſich durch eine allerdings arge Unzukömmlich¬ keit, welche ſie ſich beim Eſſen mit Liſt oder Gewalt immer wieder erlaubte. Die Mutter kochte nämlich jeden Mittag einen dicken Kartof¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/25>, abgerufen am 24.11.2024.